Neben dem Abstecken und Reflektieren von Grenzen und einem veränderten Blick auf die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur bedingt eine sozial-ökologische Gestaltung auch einen angemessenen Umgang mit Komplexität und ungleicher Verteilung von Gestaltungsmacht.
Mit Komplexität umgehen
Krisenhafte gesellschaftliche Naturverhältnisse zeichnen sich durch ein ungekanntes Maß an Komplexität aus. Sozial-ökologische Gestaltung muss berücksichtigen, dass jede angestrebte Entwicklung nur begrenzt steuerbar ist. Dies erfordert einerseits einen reflektierten und transparenten Umgang mit Unsicherheit und Nichtwissen sowie divergierenden Problemsichten und Erfahrungen gesellschaftlicher Akteure, andererseits die Fähigkeit, Überraschungen zu verarbeiten und offen zu sein gegenüber alternativen Gestaltungszielen und deren Umsetzung (Jahn et al. 2020).
Bezogen auf die Corona-Pandemie sind nicht nur die medizinischen Grundlagen des Virus und der Pandemie sowie die Wirkungszusammenhänge von Alltagspraktiken und Maßnahmen komplex, sondern insbesondere auch das nichtlineare Verhalten komplexer Systeme.
Was COVID-19 (uns) lehrt, ist komplexe System zu verstehen. Komplexe Systeme zeichnen sich durch ein bestimmtes Systemverhalten aus. Nicht nur die Wechselwirkungen sind komplex, sondern insbesondere auch das Verhalten von komplexen Systemen in Form von exponentiellem Wachstum. Ein fundamentales Charakteristikum ist dabei die Nicht-Linearität: Nichtlineare Dynamiken können das System sprengen und in eine neue Systemphase übergehen. Dieser Übergangspunkt wird als Kipp-Punkt bezeichnet. In der Corona-Krise sind diese Kipppunkte z.B. bei der Nachverfolgung von Krankheitsfällen durch Gesundheitsämter oder bei der Überlastung von Krankenhauskapazitäten zu beobachten.
Ein weiteres Phänomen komplexer Systeme besteht darin, dass der Beobachter, hier v.a. Wissenschaftler*innen, Teil des Systems ist. Diese Inhärenz des Beobachters bedeutet, dass er Teil eines Großexperiments ist, das im Kern durch Anpassung an sich selbst vollziehende Prozesse organisiert ist. Die Unsicherheit in der Prognose, wann ein System umschlägt – kleine Ursachen können große Wirkungen erzeugen – und wie der neue Systemzustand beschaffen ist, bezeichnen eine große Unsicherheit; neben der retrospektiven Erfassung von Anpassungsprozessen behilft sich Wissenschaft in der Corona-Krise mit optionalen Szenarien. So gesehen kommen je nach Systemzustand mit Unsicherheit behaftete Aussagen heraus, deren Begrenztheit man selbstreflexiv spiegeln muss. So ist das Nichtwissen im Verhältnis zum gesicherten, d.h. kritisch geprüften Wissen, offen und transparent darzulegen, was in der Politik oftmals zu Verwerfungen führt. Hier herrscht ein Wunsch nach eindeutigen Aussagen vor, der wissenschaftlich nicht bedient werden kann oder die wissenschaftlich nicht gegeben werden können.
Unsere menschliche Wahrnehmung ist zutiefst linear geprägt in klaren, kausal nachvollziehbaren Wenn-Dann-Folgen. Schon die Tatsache, dass eine winzige Ursache eine starke nichtlineare Folge haben kann, ist schwer fassbar. In Bezug auf die Corona-Krise hat der vergleichsweise harmlose Sommer 2020 den Blick auf den Herbst verstellt. Die politisch Verantwortlichen reagierten auf den vielfachen Wunsch nach Lockerungen – auch um die Dynamik der Pandemie vergessen zu machen. Nichtlineares Systemverhalten ist schwer vorstellbar. Noch gravierender ist dies beim Klimawandel oder der Vernichtung der Arten. Es fehlt die antizipative Vorstellungskraft, obwohl es ausreichende Signale für Klimawandel und Artenschwund gibt. Veränderungssignale werden zwar erkannt, aber im Alltag werden diese in einer Art „Zwangslinearisierung“, der Vorstellung einfacher kausaler Wirkungszusammenhänge zurückübersetzt. Dann scheint die „gewohnte“ Welt wieder auf, die jedoch exponentielle Dynamiken verkennt. Dies kann eine Erklärung dafür sein, dass Teile der Gesellschaft vom Einsetzen einer zweiten Pandemiewelle überrascht werden konnten und darüber hinaus die existenziellen Risiken von Klimakatastrophe und Artensterben unterschätzen.
Auch die Klimakatastrophe ist von exponentiellem Wachstum und Kipppunkten geprägt. Dabei kommt es nicht nur auf die Rolle der Wissenschaft an, bessere Modelle und Vorhersagen zu liefern sowie Erkenntnisse zu kommunizieren, sondern auch auf die Bereitschaft der übrigen Gesellschaft, ihr Wissen und ihre Praktiken anzupassen und zu verändern.
Teilhabe aller Akteure sichern
Krisen gesellschaftlicher Naturverhältnisse sind geprägt durch Formen des Ausschlusses v.a. marginalisierter Akteure und die ungleiche Verteilung von Gestaltungsmacht. Eine sozial-ökologische Gestaltung muss demgegenüber als demokratischer und partizipativer Prozess konzipiert sein und auf die praktisch wirksame Teilhabe aller relevanten Akteure abzielen. Dies setzt eine wechselseitige Anerkennung unterschiedlicher Interessen und Handlungsmöglichkeiten voraus (Jahn et al. 2020).
In der Corona-Krise stellen sich mit Hinblick auf Gestaltung Fragen, wie das Miteinander unterschiedlich vulnerabler Gruppen (ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen), das Zusammenleben von Risikogruppen und Nicht-Risikogruppen gestaltet werden soll oder wie die Versorgungsverantwortung im häuslichen Alltag unter Berücksichtigung der Geschlechtergerechtigkeit gelingen kann. Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie erfordern zudem Einsicht, Bereitschaft und Mitwirken der Bürger*innen. Das gelang bzw. gelingt in manchen Kulturen oder Ländern bislang besser, in anderen schlechter bis gar nicht. Die Bereitschaft und Entscheidung der Bürger*innen, Einschränkungen der Handlungsfreiheit in Kauf zu nehmen und Maßnahmen zur Risikovorsorge zu befolgen, erfordern Wissen und Einsicht hinsichtlich des gesamtgesellschaftlichen Nutzens dieser Regelungen, die über den Horizont des individuellen Nutzens hinausgehen. Im Diskurs hierzulande fällt auf, dass die aktive Teilnahme der Bürger*innen durchaus anerkannt und erbeten ist. Dies äußert sich in unterschiedlichsten Appellen seitens politischer Entscheidungsträger*innen und wissenschaftlicher Expert*innen an die Bürger*innen. Dabei erscheint es als fragwürdig, warum die gesamtgesellschaftliche Verantwortung dem bzw. der Einzelnen aufgebürdet werden sollte. Zumal dies zwangsläufig Folgeprobleme wie insbesondere Ungerechtigkeiten auslöst, da soziale Ungleichheiten auch immer mit unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten und Gestaltungsmacht verbunden sind. Eine aktive Beteiligung der Bürger*innen darf daher nicht nur ein Bestandteil des Gefahrenmanagements sein, sondern muss in einem Prozess der Gestaltung gesellschaftlich ausgehandelt werden.
Die lange Geheimhaltung seitens der chinesischen Regierung hat Prozesse des Verstehens und eines transparenten Umgangs mit der Pandemie behindert. Undemokratische Bedingungen müssen daher als Teil der Mitverursachung betrachtet werden, auch wenn u.U. dieselben Bedingungen sich als effektiv bei der Eindämmung von Ausbrüchen erwiesen haben. Auch in Deutschland wird breit diskutiert, inwieweit die Pandemie ein Demokratieproblem darstellt. Unter Verweis auf Freiheitseinschränkungen wurden populistische Bewegungen resonanzfähig, die keine Toleranz und offenen Fragen zulassen, sondern mit hoch aufgeladenen Parolen und Verschwörungstheorien Hass und einfache Freund-Feind-Mechanismen schüren. Das Versäumnis der politischen Akteure, Gestaltungsgrenzen in Bezug auf Freiheitseinschränkungen offensiv zu adressieren, führte dazu, dass sich die fehlenden Ausdrucksmöglichkeiten der Kritik aufstauen konnten. Dieser Umstand trug mit den populistischen Strategien zu einer Abriegelung des Politischen bei, was die Gefährdung der Demokratie verdeutlicht. Zugleich verweisen diese Entwicklungen auf die zentrale Bedeutung der Teilhabe und Fragen der Gestaltungsmöglichkeiten und Gestaltungsgrenzen.
Mit Blick auf Deutschland zeichnen sich allerdings durchaus gesellschaftliche und kollektive Lernprozesse ab. Das Spektrum der Stimmen zur gemeinsamen Problembeschreibung hat sich nach und nach erweitert. Nicht nur wissenschaftliche Expert*innen und politische Entscheidungsträger*innen kommen zu Wort, sondern auch Vertreter*innen des Gesundheits- und Bildungswesens oder Gewerkschaften. Nichtsdestotrotz muss das Problem des Ausschlusses und der Marginalisierung gesellschaftlicher Gruppen auch darüber hinaus weiterhin berücksichtigt werden, um deren Partizipation sicherzustellen. Dies erfordert einen transdisziplinären Dialog zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik, der bislang noch sehr unterentwickelt ist, was als Teil des Problems erachtet werden kann.
Herausforderungen eines vorsorgenden Handelns im Anthropozän
Die COVID-19-Pandemie hat eindrucksvoll gezeigt, dass politische Reaktionen auf unvorhergesehene Krisen in einem bisher ungekannten Maß und in nie dagewesener Geschwindigkeit möglich sind. Diese Erfahrung kann für den Umgang mit anderen sozial-ökologischen Krisen herangezogen werden – verbunden mit der zentralen Einsicht aus der Corona-Krise, dass sich Gesellschaften heute Nachsorge nicht mehr leisten können – weder mit Blick auf kommende Epidemien noch bei der Gestaltung sozial-ökologischer Transformationen. Wenn Politik, Gesellschaft und Wissenschaft den hieraus resultierenden Vorsorgegedanken ernst nehmen, dann müssen wir – mithin alle – Krisen als Gestaltungsaufgabe annehmen, also als ein kollektives, kooperatives Handeln in der Gegenwart. Dabei gilt es, die Diversität und mögliche Konflikte in heterogenen Akteurskonstellationen zu akzeptieren und auszuhalten.
Wenn wir also gegenwärtigen wie zukünftigen Krisen nicht mehr lediglich mit Gefahrenabwehr und Krisenmanagement begegnen wollen, müssen wir einen dauerhaften, langfristigen Lernprozess zur Gestaltung nachhaltiger gesellschaftlicher Naturverhältnisse etablieren. Gelingt dieser Lernprozess, eröffnen sich Ansatzpunkte für grundlegendere sozial-ökologische Transformationen. Wo liegen nun die Herausforderungen eines vorsorgenden Handelns im Anthropozän? Und für wen? Gestalten in einem demokratischen Prozess bedeutet, dass Politik, Wissenschaft und Gesellschaft in ihren je eigenen Rollen und Verantwortlichkeiten aus den Erfahrungen, Wünschen und Interessen und damit den Widersprüchen der Gegenwart das Mögliche und Machbare herausarbeiten. Wichtig ist hier, ein Bewusstsein für aufbrechende Interessenkonflikte und ungleich verteilte Gestaltungsmacht zu haben und dies explizit zu machen, verbunden mit einer kritischen Reflexion von Machtbeziehungen. Wichtig ist zudem, trotz aller Dringlichkeit, einen offenen Blick für die Zukunft zu erhalten und aus einer gestalterischen Haltung heraus den Fokus auf jene Blockaden zu legen, die sozial-ökologische Transformationen hemmen oder verhindern.
Das Neue in diesem Prozess, das im Übrigen in der COVID-19-Pandemie allgegenwärtig ist, liegt in der Aufgabe, einen gesellschaftlich akzeptierten Umgang mit Unwissen, Nicht-Wissen und Unsicherheit zu schaffen. Die Wissenschaft kann allenfalls einen begrenzten Beitrag leisten, indem sie antizipative Möglichkeitszustände der Problemlösung entwirft und diese dann jeweils bewertet. Die Kunst liegt darin, mögliche, sich auftuende Gestaltungsblockaden zu identifizieren, um sie so gezielter durchbrechen zu können. Wie schon beschrieben, müssen solche Entscheidungen zur vorsorgenden Problemlösung unter vehementem Zeitdruck getroffen werden – in dem Bewusstsein, dass es bereits „fünf nach zwölf“ ist. Dennoch ist es wichtig, dass diese Entscheidungen unter Unsicherheit ausreichend bedacht und mit der nötigen Zeit getroffen werden. Dies erfordert eine gewisse Widerständigkeit gegenüber einem übermächtigen Zeitdruck.
Mit unserem sozial-ökologischen Gestaltungsansatz ist es möglich, die mit solch weitreichenden Veränderungsprozessen verbundenen Bedingungen und Herausforderungen besser zu verstehen und Ansatzpunkte für Handlungsoptionen auszuweisen. Die in dem vorangegangenen Beitrag vorgestellten sozial-ökologischen Gestaltungsprinzipien helfen, konkrete Formen der Krisenbewältigung zu veranschaulichen, die die Reduktionen reiner Gefahrenabwehr überwinden. Zugleich ermöglicht der sozial-ökologische Gestaltungsansatz, die Verschränkungen der „Corona-Krise“ mit weiteren globalen Krisenphänomenen wie Klimawandel und Biodiversitätsverlust besser greifbar zu machen.
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