Corona Transdisziplinarität

Transdisziplinäre Zusammenarbeit als Reaktion auf sozial-ökologische Krisen – das Beispiel der Corona-Pandemie

Würfel in verschiedenen Farben mit Srechblasen

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Im ersten Halbjahr der Corona-Pandemie in Deutschland arbeiteten Politik, Wissenschaft und weitere gesellschaftliche Akteure eng zusammen. Diese Zusammenarbeit entwickelte Merkmale, die sich auch in methodisch strukturierten transdisziplinären Forschungsprozessen wiederfinden: erstens eine geteilte Beschreibung des Problems, zweitens die Integration von Wissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und von Akteuren aus anderen Gesellschaftsbereichen und drittens eine fortlaufende kritische Bewertung von Zwischenergebnissen und Maßnahmen.

Die Corona-Pandemie ist eine gesellschaftliche Krisenerfahrung. Die Pandemie teilt viele Merkmale mit bekannten Problemen aus dem Nachhaltigkeitsbereich, beispielsweise dem Klimawandel: Wie alle komplexen Probleme ist die Pandemie durch Unsicherheiten und fehlendes Wissen gekennzeichnet – über das Virus Sars-CoV-2 und die davon ausgelöste Erkrankung Covid-19 selbst, aber auch über die Wirksamkeit und unbeabsichtigten Nebenfolgen der zur Eindämmung der Pandemie ergriffenen Maßnahmen. Sie hat eine ökologische und gleichzeitig eine zutiefst soziale Dimension. An ihrer Bewältigung sind viele verschiedene Akteure aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft beteiligt. Wir verstehen die Corona-Pandemie deswegen als eine sozial-ökologische Krise.

Aus der Forschung über Transdisziplinarität wissen wir, dass sozial-ökologische Probleme nicht von einzelnen Akteuren gelöst werden können. Im methodisch kontrollierten Rahmen transdisziplinärer Forschungsprojekte bearbeiten interdisziplinäre Wissenschaft und gesellschaftliche Akteure gemeinsam solcherlei Probleme. Betrachten wir die politischen und wissenschaftlichen Aktivitäten sowie den medialen Diskurs in den ersten Monaten der Pandemie 2020 in Deutschland, scheinen diese auf den ersten Blick wie ein chaotisches Stimmengewirr. Eine Rekonstruktion der Ereignisse im ersten Halbjahr 2020 durch die „Brille“ der transdisziplinären Forschung zeigt jedoch, dass sich unter dem Handlungsdruck einer akuten sozial-ökologischen Krise schrittweise, ungesteuert und implizit eine transdisziplinäre Zusammenarbeit entwickelte. Das Spektrum von Stimmen zur gemeinsamen Problembeschreibung wurde nach und nach erweitert, entsprechend konnte auf eine größere Wissensbasis zurückgegriffen werden, um einen gesellschaftlich möglichst breit getragenen Umgang mit der Corona-Pandemie zu finden. Neues wissenschaftliches Wissen wurde genutzt, um neue Maßnahmen zu definieren und laufend zu optimieren. Expert*innen aus betroffenen Bereichen wie zum Beispiel Schulbehörden und Gewerkschaften bewerteten erwünschte und unerwünschte Folgen von Maßnahmen, was wiederum zu deren Anpassung beitrug. Gleichzeitig wurden in diesem ungeordneten Prozess wichtige Akteure übergangen. Andere wurden zwar gesehen, aber nicht ernsthaft einbezogen.

In diesem Beitrag wollen wir diese Entwicklung nachzeichnen. Als Vorbemerkung noch der Hinweis, dass wir uns auf die ersten Monate der Pandemie in Deutschland konzentrieren. Die wissenschaftsfeindlichen Tendenzen und das Misstrauen gegenüber wissenschaftlicher Expertise, die ab dem Sommer teilweise in der Bevölkerung zu beobachten waren, sollen an anderer Stelle besprochen werden.

1. Phase: Eine akute Gefahr identifizieren

Beim Auftreten der ersten Covid-19-Fälle in Deutschland ging es darum, eine akute Gefahrensituation zu identifizieren, also das Virus und seine möglichen (direkten, meist gesundheitlichen oder gesundheitssystembezogenen) Auswirkungen zu beschreiben. In dieser ersten Phase zwischen Januar und März waren (natur-)wissenschaftliche Disziplinen wie die Virologie oder Epidemiologie sowie Universitätskliniken die zentralen wissenschaftlichen Akteure. Wesentliche Fragen in dieser Zeit waren etwa, wie SARS-CoV-2 übertragen wird, welche gesundheitlichen Risiken bestehen oder welche Auswirkungen hohe Infektionszahlen auf das Gesundheitssystem haben könnten (z.B. DW 01/2020, Spiegel 2/2020 oder Tagesspiegel 2/2020). Aus dieser Gefahrenanalyse leiteten politische Entscheidungsträger*innen erste Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge ab (Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen etc., z.B. Tagesschau 22.03.2020). Dieses Vorgehen erinnert an das etablierte Vorsorgeprinzip der Umweltpolitik.

2. Phase: Die verschiedenen Dimensionen des Problems erkennen

Parallel zum Inkrafttreten der ersten politischen Maßnahmen fand ein zweiter Prozess statt: Der Umgang mit SARS-CoV-2 wurde ein gesellschaftliches Problem. Es meldeten sich rasch Vertreter*innen wissenschaftlicher Disziplinen wie Ökonomie, Sozial- und Erziehungswissenschaften sowie Psychologie zu Wort. Sie kritisierten, dass gravierende Nebeneffekte der bisherigen Maßnahmen nicht ausreichend berücksichtigt wurden (z.B. ein Ansteigen häuslicher Gewalt) und forderten eine umfassende interdisziplinäre Strategie für den Umgang mit SARS-CoV-2. Darüber hinaus mischten sich – vermittelt über Medien oder direkt in den sozialen Medien – gesellschaftliche Akteure wie zum Beispiel Pflegekräfte, Unternehmer*innen und berufstätige Eltern ein. Sie machten darauf aufmerksam, dass einzelne Bevölkerungsgruppen besonders unter den negativen Nebenfolgen der verordneten Maßnahmen litten und gezielter Unterstützung bedürften. Durch diese Wortmeldungen wurde die Beschreibung des Problems, wie ein guter gesellschaftlicher Umgang mit Corona aussehen könnte, komplexer, aber auch präziser.

3. Phase: Neues Wissen erzeugen und integrieren

Mit der präzisierten Beschreibung des Problems war eine Basis vorhanden, um einen angemessenen, gesellschaftlich möglichst breit getragenen Umgang mit der Corona-Krise zu finden. Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen lieferten neue Erkenntnisse über das Virus und mögliche Handlungsoptionen. Politiker*innen griffen diese auf, um neue Maßnahmen zu definieren oder laufend anzupassen. So wurde eine Maskenpflicht eingeführt, nachdem diese zunächst von Politik und Wissenschaft abgelehnt worden war. Die neuen Erkenntnisse waren wichtig, um über mögliche Lockerungen einzelner Maßnahmen zu diskutieren. Eine intensive Aushandlung zwischen Politik, Wissenschaft und Gesellschaft fand beispielsweise bei der Entscheidung zur Öffnung von Schulen oder Kitas statt.

4. Phase: Maßnahmen kritisch bewerten und anpassen

Ab Mai 2020 lockerten die Bundesländer die zuvor eingeführten Maßnahmen schrittweise. Die Effekte dieser Lockerungen wurden anhand von unterschiedlichen Indikatoren genau beobachtet. So erhob das Robert-Koch-Institut täglich Kennzahlen wie den R-Wert oder Neuinfektionen, die Handelskammern registrierten den Umsatz verschiedener Wirtschaftsbranchen, und die Bundesagentur für Arbeit erfasste Veränderungen der Arbeitslosenzahlen. Diese Zahlen spielten wiederum eine wichtige Rolle bei der politischen und gesellschaftlichen Bewertung der Maßnahmen und ihrer Folgen. Dieses Vorgehen könnte man auch als Durchführung eines Realexperiments bezeichnen. Der Berliner Virologe Christian Drosten beschrieb dieses Vorgehen für die Schulen im Corona-Update-Podcast (NDR, 16.06.2020) mit den Worten: „Wir sind jetzt in so einer Test- und Vorlaufphase, wo man sagt, machen wir mal wieder auf, denn die Sommerferien kommen sowieso. Und wenn was schiefgeht, dann ist das noch mal eine Gelegenheit zu sagen, okay, jetzt mal durchatmen. Das wäre fast schiefgegangen. Jetzt machen wir erst mal Ferien und gehen noch einmal in eine Fehleranalyse.“ Hier zeigen sich gesellschaftliche, kollektive Lernprozesse über den Zeitverlauf, wie sie auch bei transdisziplinären Forschungsprozessen typisch und essentiell sind: Pläne sind wichtig, aber genauso wichtig ist es, sie immer wieder an neu gewonnene Erkenntnisse anzupassen, also adaptiv und in iterativen Schleifen zu handeln. Die Bundesländer passten die Maßnahmen auch stärker an die recht unterschiedlichen regionalen Situationen an. Wie wichtig der lokale oder regionale Kontext ist, betont die transdisziplinäre Forschung schon lange.

Dieser kurze Abriss zeigt, wie traditionelle Muster der Aufgabenteilung zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft schrittweise aufgebrochen wurden und sich neue Kooperationen etablierten. Zwar existieren an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik diverse etablierte Beratungsgremien, Kommissionen und ganze Forschungseinrichtungen, welche die politischen Akteure auf Bundes- und Länderebene mit Expertise versorgen. Diese Institutionen bewährten sich in der Corona-Krise, wie das Beispiel des Robert-Koch-Instituts oder die wiederholten Stellungnahmen der Leopoldina zeigen. Die Aktivitäten dieser Beratungseinrichtungen trugen auch dazu bei, dass wissenschaftliches Arbeiten und wissenschaftliche Expertise in der Öffentlichkeit sichtbar wurde wie nie zuvor. In den ersten Pandemiemonaten wurde aber deutlich, dass diese bestehenden Schnittstellen offensichtlich für die Bearbeitung einer sozial-ökologischen Krise nicht ausreichen.

Für den Umgang mit bestehenden und zukünftigen Krisen lassen sich daraus zwei Punkte ableiten: Sozial-ökologische Probleme verlangen nach interdisziplinärer wissenschaftlicher Expertise und nach Praxiswissen. Die disziplinär eng gefasste Expertise beispielsweise des Robert-Koch-Instituts ist zwar ein zentraler Bestandteil der Problembearbeitung, reicht aber nicht aus. In seinem Gutachten „Impulse aus der COVID-19-Krise für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland“ schlägt der Wissenschaftsrat eine „responsive wie antizipative Politikberatung“ vor, die auf divers besetzten Beratungsgremien sowie „vermehrt plurale Netzwerke und kooperative Arbeitsformen zwischen wissenschaftlichen und politischen Akteuren“ beruht (S. 21). Auf Grundlage unserer Erfahrung mit transdisziplinären Forschungsprozessen unterstützen wir diesen Vorschlag. Gleichzeitig verlangt jedes spezifische Problem nach einer spezifischen Akteurskonstellation. Welche Akteure für den konkreten Fall relevant sind, muss kontextabhängig bestimmt werden. Deswegen sind Wortmeldungen oder Proteste von Betroffenen oder Expert*innen nichts Negatives. Problembewältigungen dieser gesamtgesellschaftlichen Größenordnung sind kaum plan- oder steuerbar, aber gerade deswegen müssen Entscheidungsträger*innen deren Eigendynamik ernst nehmen. Die reichhaltige Praxis transdisziplinärer Forschung kann für solche Prozesse eine hilfreiche Orientierung und methodisches Handwerk bieten.

Autor*innen

Lena Theiler

Lena Theiler arbeitet am ISOE als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsfeld Transdisziplinarität. Sie studierte Soziologie und Deutsche Philologie an der Freien Universität Berlin und der Universität Basel. Ihre Masterarbeit schrieb sie am KlimaCampus der Universität Hamburg über Einflüsse von Umweltveränderungen auf individuelle Migrationsentscheidungen.

Oskar Marg

Oskar Marg ist seit 2016 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsfeld Transdisziplinarität am ISOE tätig. Er hat Soziologie, Geschichte und Arbeitswissenschaften an der Universität Bremen und der Åbo Akademi (Finnland) studiert und zur Resilienz von Haushalten gegenüber extremen Schadenserfahrungen am Beispiel eines Hochwasserereignisses in einer sächsischen Kleinstadt promoviert.

Michael Kreß-Ludwig

Michael Kreß-Ludwig ist seit 2018 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Transdisziplinäre Methoden und Konzepte am ISOE tätig. Zuvor arbeitete er am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) und am Zentrum für Erneuerbare Energien (ZEE) der Universität Freiburg in verschiedenen Projekten der transdisziplinären Nachhaltigkeitsforschung. Michael Kreß-Ludwig hat Soziologie, Psychologie und Ethnologie an der Universität Heidelberg studiert und an der Universität Freiburg zu bürgerschaftlichem Engagement in der Energiewende promoviert.

2 Kommentare zu “Transdisziplinäre Zusammenarbeit als Reaktion auf sozial-ökologische Krisen – das Beispiel der Corona-Pandemie

  1. […] Insgesamt zeigt sich, dass die multiplen sozial-ökologischen Krisen über Ad-hoc-Konstellationen zu…. […]

  2. Wolfgang Marg

    Die Impfung als ein gutes Beispiel für eine transdisziplinäre Aufgabenstellung. Herstellung eines spezifischen Impfstoffes (Forschung, Pharmakologie, Virologie), Verteilung (Logistik, Ökonomie, Politik der „Gerechtigkeit“), medizinische Aufklärung (was ist impfen? gegen Bakterien? gegen Viren? gegen spezielle Krankheiten? Immunologie in verschiedenem Alter), Akzeptanz (Bildungsstand der Empfänger, Weltanschauung, Tätigkeit, Alter), Resourcen ( stationäre und ambulante Versorgung, ÖGD)Validierung im gesamten gesellschaftlichen Bereich

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