Das Reallabor ist ein noch vergleichsweise junger Forschungsansatz, der Raum zum partizipativen Experimentieren bietet. Ausgehend von einer gesellschaftlichen Problemstellung bringt es Forschung und Praxis zusammen. Damit soll ein Beitrag zur Verbesserung dieser Probleme geleistet werden. Insbesondere im Bereich der Nachhaltigkeitsforschung hat sich das Reallabor als erfolgreiches Forschungsformat etabliert. Auch das ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung führt in seinen transdisziplinären Forschungsprojekten Reallabore durch, etwa um mit gesellschaftlichen Akteuren nachhaltige Pendelpraktiken zu erproben. Nun plant das Bundeswirtschaftsministerium ein „Reallabor-Gesetz“. Damit soll ein Rechtsrahmen geschaffen werden, der das Experimentieren mit innovativen Ansätzen erleichtert. Wie könnte es zur Förderung der Forschungsmethode innerhalb der transdisziplinären Nachhaltigkeitsforschung beitragen? Darüber spricht ISOE-Forscher Oskar Marg im Interview.
Dr. Oskar Marg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsfeld Transdisziplinarität.
Reallabore haben sich in den letzten Jahren immer stärker als Forschungsformat im Bereich der Nachhaltigkeitsforschung etabliert. Was muss man sich unter einem Reallabor vorstellen, was macht das Format aus?
Oskar Marg: In einem Reallabor kommen Wissenschaft und Gesellschaft gewissermaßen unter „echten“ Bedingungen zusammen, um gemeinsam auf eine konkrete gesellschaftliche Herausforderung wie etwa die nachhaltige Gestaltung von Pendelmobilität zu blicken und möglichst tragfähige Lösungen dafür zu entwickeln und zu testen. Reallabore verfolgen also einen experimentellen Ansatz. Sie wollen Lernprozesse zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Akteuren fördern. Das ist das Besondere, was dieses Format ausmacht. Und im Gegensatz zu einem klassischen wissenschaftlichen Experiment wird im Reallabor nicht unter streng kontrollierten Bedingungen über etwas geforscht, sondern es gibt einen offenen Prozess, in dem Wissenschaft und Gesellschaft gemeinsam forschen.
Für welche Forschungsfragen eignet sich dieser experimentelle Ansatz?
Oskar Marg: Speziell im Bereich der Nachhaltigkeitsforschung wird dieser Ansatz zum Beispiel angewendet, um zu verstehen, wie neue, idealerweise nachhaltige Alltagspraktiken entstehen können. Die Idee ist: Menschen sollen die Möglichkeit haben, neue Anwendungen oder Verhaltensweisen in einem experimentellen Rahmen für eine begrenzte Zeit auszuprobieren. Aus den neuen Praktiken, die sich während der Testphase bewähren, können dann veränderte Routinen werden. Es kann beispielsweise eine Straße für einige Monate mit kleinen Eingriffen fußgängerfreundlicher gestaltet werden. Oder ein Beispiel aus dem ISOE: Kolleg*innen im Forschungsprojekt „PendelLabor“ haben Pendler*innen dazu eingeladen, für den Weg zur Arbeit probeweise auf ein nachhaltigeres Verkehrsmittel umzusteigen. Ein Vorteil des vorübergehenden Charakters des Experiments ist, dass Widerstände geringer ausfallen, wenn neue Umstände zeitlich begrenzt sind. Es ist leichter, erst einmal etwas für einen bestimmten Zeitraum auszuprobieren, als plötzlich und „für immer“ vor neue Herausforderungen gestellt zu werden. Gelernt wird aus der praktischen Umsetzung. Und es wird dabei für die Beteiligten sichtbar, dass manche Änderungen gar nicht so schlimm sind, wie ursprünglich befürchtet. Wichtig ist, dass nicht „die Wissenschaft“ alleine ein Experiment anordnet, sondern dass die Menschen und Kommunen vor Ort explizit dabei einbezogen werden. Das kann beispielsweise durch eine Reihe von Workshops umgesetzt werden, in denen diese Akteure ihre Sichten auf bestehende Probleme äußern können, oder über Infostände, an denen Menschen direkt auf der Straße angesprochen werden. Der Reallaboransatz eignet sich gerade auch dann, wenn es nicht primär um rein technische Innovationen geht, sondern um soziale Veränderungen, auch wenn Technologie hierbei eine Rolle spielen kann.
„Mitmach-Formate“ in der Forschung sind als solche aber nicht neu, oder? Warum liegen Reallabore seit einigen Jahren so im Trend?
Oskar Marg: Das stimmt, partizipativ-experimentelle Forschungsansätze sind keine neue Erfindung. Und das Reallabor ist nicht das einzige Format. Es gibt auch einige verwandte Ansätze wie beispielsweise die Living Labs oder Transition Labs. Ein Grund für den Trend ist wohl, dass der Ansatz des Reallabors in den letzten Jahren vermehrt von der Politik gefördert wird.
Worin liegt dieser Anstieg der Förderung begründet?
Oskar Marg: Das lässt sich aus meiner Sicht wesentlich darauf zurückführen, dass Politik und Gesellschaft vor der Herausforderung stehen, viele Veränderungen gleichzeitig und nachhaltig einzuleiten und umzusetzen. Es gibt also einen beachtlichen Transformationsdruck bei gleichzeitiger Komplexität der Probleme. Die Folgen des Klimawandels und das Artensterben nehmen zu und sind inzwischen überall sichtbar. Gleichzeitig sind diese Probleme so vielschichtig, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Um gute und tragfähige Lösungen zu finden, müssen viele Perspektiven aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zusammengebracht werden, also letztlich all jene, die für das jeweilige Problem relevant sind. Das ist ein grundlegender Problemzugang in der transdisziplinären Forschung. Deshalb ist es kein Zufall, dass Reallabore seit geraumer Zeit als ein relevantes transdisziplinäres Format ins Spiel gebracht werden. Diese Methode erlaubt es in besonderem Maße, Veränderungsprozesse zu üben und dabei möglichst unterschiedliche Akteure zu beteiligen und so einen Wandel anzustoßen, der auch gesellschaftlich akzeptiert wird.
Was sind die entscheidenden Kriterien für den Erfolg von Reallaboren?
Oskar Marg: Wir konnten in einem Begleitforschungsprojekt in Baden-Württemberg, wo wir Forschende aus 14 Reallaboren befragt haben, elf Faktoren identifizieren, die für den Erfolg entscheidend sind. Zum Beispiel ist es wichtig, in einem Reallabor-Projekt von Anfang an vor Ort zu sein, dort, wo die Forschung stattfindet, um zu hören, was hier die gesellschaftlichen Probleme und Bedürfnisse sind. Diese sollten vom Reallabor aufgegriffen werden. Auch in den sogenannten Realexperimenten, die innerhalb des Reallabors durchgeführt werden, hat es sich als zentral erwiesen, diese vor Ort – auf der Straße gewissermaßen – sichtbar durchzuführen und so in einen gemeinsamen Lernprozess mit den Menschen zu treten und auch jene einzubeziehen, die vielleicht nicht unbedingt zu einem Workshop etwa an einer Universität gehen würden. Als Rahmenbedingungen braucht ein Reallabor zudem ausreichend Zeit und Ressourcen für die vielen unterschiedlichen Aktivitäten, die hier neben rein wissenschaftlichen Aktivitäten – die ja parallel auch stattfinden – durchgeführt werden, zum Beispiel für eine Reparaturwerkstatt oder einen Workshop mit Anwohner*innen. Die Erfahrungen zeigen zudem, dass die Ziele in Reallaboren immer wieder an die aktuellen Entwicklungen angepasst werden. Und damit die Erfolge eines Reallabors nach der drei- bis fünfjährigen Laufzeit nicht verpuffen, müssen schon während der eigentlichen Laufzeit die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass zumindest einige der angestoßenen Veränderungen auch dauerhaft erhalten bleiben. Dies kann beispielsweise gefördert werden, indem während des Reallabors engagierte Personen beteiligt werden, die bereit sind, nach Ende des Projekts Verantwortung für die angestoßenen Prozesse und Ergebnisse zu übernehmen.
Du hast an der Begleitung und Beforschung vieler Reallabore mitgearbeitet, als sie noch ein Nischendasein führten. Mittlerweile hat der Ansatz sich einigermaßen konsolidiert, etwa was die Kerncharakteristika von Reallaboren angeht. Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) plant nun ein Gesetzesvorhaben zu Reallaboren. Wie nimmst Du diese zusätzliche Aufmerksamkeit auf die Reallabore wahr?
Oskar Marg: Grundsätzlich positiv. Bei den Reallaboren haben sich in den letzten Jahren zwei relativ getrennt voneinander agierende Fachkreise entwickelt, die ein recht unterschiedliches Verständnis von diesem Ansatz haben. Neben der Nachhaltigkeitsforschung, deren Verständnis vom Reallabor ich hier nachgezeichnet habe, gibt es noch einen anderen Anwendungsbereich. Hier werden vor allem technische und ökonomische – und nicht so sehr soziale und nachhaltige – Innovationen betrachtet, für die in den Experimenten dann regulatorische Freiräume geschaffen und bürokratische Hemmnisse abgebaut werden sollen, um Innovationsprozesse zu beschleunigen. Beispiel: Um das autonome Fahren im öffentlichen Verkehrsraum zu erproben, müssen Ausnahmegenehmigungen erteilt werden. Das ist prinzipiell ein nachvollziehbares Anliegen, auch, dass das BMWK zunächst mal mit einem wirtschaftlichen Fokus operiert. Wichtig ist aber, dass der Begriff „Reallabor“ nicht zu sehr verwässert und dass nicht das Bild entsteht: Ein Reallabor sei eine Art Produkt von der Stange, das mithilfe staatlicher Förderung wirtschaftlich, schnell und rechtssicher als Allheilmittel eingesetzt werden könne, um eine technologische Lösung nach der anderen zu liefern, und das nebenbei noch gesellschaftliche Akzeptanz schaffen solle. Dass Zukunft im Reallabor geprobt werden kann, steht außer Frage, aber dazu muss auch die Frage erlaubt sein, welche Zukunft eigentlich gewünscht wird. Unsere Position ist hier, dass es bei den Reallaboren nicht um eine überwiegend technikgetriebene Entwicklung geht, sondern dass gesellschaftliche Prozesse und Veränderungen eine zentrale Rolle spielen.
Was heißt das genau für die Ausarbeitung des Reallabor-Gesetzes? Welche Empfehlung würdest Du auf der Grundlage Deiner Erfahrungen mit Reallaboren der Nachhaltigkeitsforschung aussprechen?
Oskar Marg: Wir diskutieren diese Frage momentan auch im „Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit“, in dem ich Mitglied bin. Grundsätzlich ist es positiv zu bewerten, dass das BMWK einen Konsultationsprozess zu dem Gesetz gestartet hat. In diesen Prozess bringen wir vonseiten des Netzwerkes Empfehlungen ein. Wir weisen zum Beispiel darauf hin, dass geklärt werden muss, ob und wann ein Reallabor überhaupt ein geeignetes Instrument ist und wann nicht. Wenn es um Regeln für Experimente geht, sind natürlich auch Haftungsfragen wichtig. Wichtig ist auch, dass Reallabore Spielräume für neue Ideen und Lösungen schaffen. Die Beschleunigung von Prozessen ist dabei nicht unbedingt vorrangig, denn die sozialen Prozesse im Reallabor, wie wir es verstehen, brauchen Zeit und es muss bei der Einhegung von Bürokratie auch gewährleistet sein, dass wir nicht hinter bereits erarbeitete Qualitätsstandards zurückfallen. Wichtig wird auch sein, wie der Übergang vom Ende eines Reallabors als eine Art experimentellen Ausnahmezustands in eine mögliche Verstetigung gestaltet wird. Hier handelt es sich letztlich um einen stark politischen Prozess, der auch einer entsprechenden Legitimation bedarf.
Gibt es eine Art Minimalanforderung, die das Reallabor-Gesetz erfüllen sollte?
Oskar Marg: Eine Minimalanforderung ist für uns im Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit, dass in diesem Gesetz ein Verständnis von Reallabor zum Ausdruck kommt, das soziale und ökologische Aspekte weitaus stärker in den Vordergrund stellt als rein technische Aspekte. Und dass Beteiligung wirklich breit verstanden wird, dass also nicht nur Unternehmen partizipieren, sondern vor allem auch die Zivilgesellschaft und Kommunen.
Links
Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit: www.reallabor-netzwerk.de
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