Interview Klimaschutz Mobilität Stadt/Region

„Das Experiment hat uns überrascht“ – wie nachhaltiges Pendeln durch einen Reallabor-Versuch gelingen kann

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Trotz Homeoffice – immer mehr Menschen pendeln zur Arbeit. Auch in der stark wachsenden Metropolregion Frankfurt Rhein-Main. Die meisten der etwa 400.000 Pendler*innen nutzen für ihren Pendelweg das Auto. Das bedeutet: Tägliche Rushhour, Belastungen für Gesundheit, Umwelt und Anwohnende. Geht es auch nachhaltiger? Das haben Wissenschaftler*innen des ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung in einem regionalen Mobilitätsexperiment untersucht. Projektleiter Luca Nitschke berichtet über Ergebnisse aus dem „PendelLabor“.

Dr. Luca Nitschke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsfeld Nachhaltige Gesellschaft am ISOE.


Im Forschungsprojekt „PendelLabor“ haben 40 Personen in einem Mobilitätsexperiment mit zwei hessischen Landkreisen über einen Zeitraum von acht Monaten versucht, ihre Pendelpraxis umzustellen. Sie sind zum Beispiel vom Auto mit Verbrennungsmotor auf ein E-Auto, auf ein E-Bike oder auf den Öffentlichen Personennachverkehr ÖPNV umgestiegen. Das Ziel war, nachhaltiger unterwegs zu sein. Das Forschungsprojekt endet erst im Herbst 2023, aber das Pendelexperiment ist inzwischen abgeschlossen. Was hat die Auswertung ergeben?

Luca Nitschke: Wir haben uns im Experiment vor allem auf drei Aspekte konzentriert. Was braucht es eigentlich, damit Menschen ein anderes Verkehrsmittel für ihren Pendelweg wählen? Welche Voraussetzungen, persönliche wie auch infrastrukturelle, müssen dafür gegeben sein? Und verändert sich möglicherweise die Einstellung zum Pendeln, das ja für viele eine echte Belastung ist, wenn sie das Verkehrsmittel wechseln? Zu allen drei Aspekten haben wir viel herausgefunden. Zum einen: Pendeln kann auch Spaß machen und als sinnvoll genutzte Zeit wahrgenommen werden. Zum Beispiel, weil der Weg zur Arbeit mit dem E-Bike als Sport angesehen wird, der sich gut in den Alltag integrieren lässt. Oder weil die Zeit in der Bahn als Gewinn empfunden wird oder sich bei der Fahrt im E-Auto ein angenehmeres Fahrgefühl einstellt.


Wie gelingt der Umstieg ganz konkret?

Luca Nitschke: Eine Voraussetzung für den Umstieg ist die Bereitschaft, selbstverständliche, alltägliche Routinen zu verändern. Das geht aber nicht auf Knopfdruck. Wir haben gesehen: Um auf ein anderes Verkehrsmittel umzusteigen, müssen Pendler*innen viele neue Kompetenzen erlernen, und das geht bei so trivialen Dingen los wie der richtigen, wetterfesten Kleidung, einer guten Routenfindung oder einer neuen Transportpraxis von Gegenständen auf dem Fahrrad, die vorher im Kofferraum lagen. Oder der Klassiker: das E-Auto strategisch durchdacht laden. Es ist sehr wichtig, zu verstehen, dass diese Kompetenzen tatsächlich „erlernt“ werden müssen und dass die Veränderung von Routinen zunächst einmal eine Hürde darstellen kann. Aber bei allen individuellen Veränderungen sind, auch das wurde sehr deutlich im Experiment, noch viele Defizite aufseiten der Verkehrsinfrastrukturen vorhanden. Der Ausbau von Radwegen und dem öffentlichen Nahverkehr und eine gut handhabbare Ladeinfrastruktur für E-Autos würden die Hürden sicher verkleinern.


So haben die Teilnehmenden des Mobilitätsexperiments ihre Mobilitätsausstattung und ihr Pendelverhalten verändert

Von 40 Teilnehmenden konnte eine Person nicht zu ihrer neuen Pendelroutine befragt werden.

Sind die Ergebnisse aus dem Reallabor denn aus Sicht des Forschungsteams überraschend?

Luca Nitschke: Das Experiment hat uns tatsächlich auf vielen Ebenen überrascht. Das ging schon bei den vielen Anfragen für die Teilnahme am Reallabor in den beiden hessischen Landkreisen Groß-Gerau und Hochtaunus los, das Interesse war im Vergleich zu ähnlich gelagerten Forschungsprojekten sehr groß. Zum anderen sind die Ergebnisse, vor allem was den Umstieg auf nachhaltigere Pendelpraktiken betrifft, doch eine echte Überraschung. Dass fast dreiviertel der Teilnehmenden ihren Pendelalltag dauerhaft umgestaltet haben, das haben wir im Vorfeld nicht für möglich gehalten. Wir werten das als großen Erfolg. Er erklärt sich für uns ganz wesentlich mit der Tatsache, dass die neuen Routinen dazu geführt haben, dass das Pendeln für viele Teilnehmende zu etwas Positivem geworden ist. Eine Teilnehmerin, die ihren Pendelweg sowohl mit dem E-Auto als auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln ausprobiert hat, hat sich für Bus und Bahn entschieden, obwohl es länger dauert und ihren Alltag mitunter ganz schön durcheinanderbringt. Aber sie schätzt die Zeit, die sie jetzt für sich nutzen kann, das Pendeln hat für sie jetzt die Bedeutung einer Auszeit, und die ist ihr der Aufwand wert.


Das klingt tatsächlich nach einem erfolgreichen Experiment. Aber wie verhält sich dieser Erfolg zum Großen und Ganzen? Der Verkehrssektor verfehlt seine Klimaziele, die Treibhausgasemissionen, die auf sein Konto gehen, steigen sogar an. Kann man dann wirklich schon von einem Erfolg sprechen, wenn eine vergleichsweise kleine Gruppe von Personen sich für nachhaltiges Pendeln entscheidet? Fallen sie überhaupt ins Gewicht?

Luca Nitschke: In einer Gesamtrechnung fallen 31 Menschen, die nachhaltiger Pendeln, natürlich nicht ins Gewicht, das muss man ganz klar so sagen, und da darf man sich auch nichts vormachen. Zumal sich die sehr hohe Quote der Teilnehmenden, die in unserem Experiment mit zwei Landkreisen in der Region Rhein-Main tatsächlich umgestiegen sind, natürlich nicht einfach so auf die breite Gesellschaft übertragen lässt. Was uns optimistisch stimmt, ist, dass wir in Kooperation mit politisch Verantwortlichen in den Landkreisen arbeiten und aufzeigen konnten, dass es Möglichkeiten für einen „Kaltstart“ gibt. Das heißt, wer nicht-nachhaltige Pendelroutinen wirklich verändern will, kann schon jetzt damit beginnen. Ein Umstieg ist möglich, ohne dass direkte, große infrastrukturelle Investitionen notwendig sind. Aber klar ist auch: damit alle oder wenigstens viele umsteigen können, sind Investitionen in Verkehrsinfrastrukturen nötig. Entscheidend ist doch aber die Frage: Wollen wir warten, bis der letzte Radweg fertig ist oder fangen wir einfach mal damit an, etwas in Richtung Nachhaltigkeit zu verändern? Aus unserer Sicht müssen wir vor allem daran arbeiten, dass die Kompetenzen, die zum Umstieg notwendig sind, einfacher erlernt werden können und dass Alternativen zum Auto grundsätzlich und überall einfacher zugänglich werden. Zum Beispiel können Kommunen und Arbeitgeber Probeangebote ermöglichen, denn der Einstieg in den Umstieg gelingt durch Testen und Erfahrung sammeln. Schaffen viele diesen Einstieg, ist das eine soziale Innovation auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit. Sie kann weitere Veränderungen anstoßen, die dann im großen Maßstab sehr wohl Einfluss auf CO2-Emmission haben. Aber neben diesem individuellen Einsatz muss es im Verkehrssektor dringend wegweisende politische Entscheidungen geben, wenn die Klimaziele erreicht werden sollen.


Hat das Experiment auch gezeigt, warum ein Umstieg auf eine nachhaltige Pendelpraktik unter Umständen nicht gelingt? Wo liegen die größten Hürden?

Luca Nitschke: Da sind wir im Grunde schon bei den politischen Entscheidungen, die auch auf kommunaler Ebene notwendig sind, um zum Beispiel die Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs und für Radwege zu verbessern. Dass hier zu wenig investiert wird, schafft praktische Hürden. In vielen Gemeinden gibt es keine Anbindung an den Schienenverkehr, Busse fahren oft in Schleifen viele Stationen an und sind dadurch deutlich langsamer am Ziel. Hinzu kommt, dass der öffentliche Nahverkehr für viele nicht zuverlässig genug ist. Wir sehen einen Zuwachs an Radwegen, aber sie entsprechen oft nicht dem Sicherheitsempfinden der Nutzerinnen und Nutzern oder sie sind verschmutzt. Auch das Abstellen von Fahrrädern ist bei weitem nicht flächenmäßig möglich. Das führt dazu, dass aus Angst vor Diebstahl gleich gar nicht Fahrrad gefahren wird. Und um nochmal auf die Kompetenzen zu sprechen zu kommen: hier fällt auf, dass die Kompetenz fürs Autofahren im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln wie ein Kulturgut vermittelt wird. Von Kindertagen an geht es spielerisch ums Autofahren und im Jugendalter um den Erwerb des Führerscheins. Sich die Kompetenz für alternative Verkehrsmittel selbstständig anzueignen, ist dagegen für viele Menschen mitunter sehr mühsam, eine regelrechte Überforderung, die sie letztlich davon abhält, etwas zu verändern. Teilnehmende haben uns oft davon berichtet, dass sie sich ohne die Teilnahme am Experiment nicht aufgerafft hätten und ohne die Unterstützung weder in die Routine gekommen wären, noch sich die notwendige Ausrüstung zugelegt hätten.

Es ist kompliziert: Die Alltagswege von Pendler*innen führen oft nicht nur zur Arbeit und zurück. Um alles unter „einen Hut“ zu bringen, ist das Auto für viele die flexibelste Lösung. Illustration: Luca Nitschke (ISOE)

Welche Schlüsse kann man aus den Ergebnissen ziehen für mögliche Maßnahmen, die das Pendeln in der Breite nachhaltiger machen kann?

Luca Nitschke: Probeangebote für nachhaltige Pendelalternativen von Kommunen und Arbeitgebern sind ein Schlüssel für die Entwicklung in die Breite. Sie sollten flankiert werden von individuellen Mobilitätsberatungen und einem betrieblichen Mobilitätsmanagement, so dass die Pendlerinnen und Pendler sich gut unterstützt fühlen. Auch sollte der Austausch zwischen Beschäftigten über das Thema Pendeln gefördert werden. Darüber hinaus ist es wichtig, den Pendelweg nicht isoliert zu betrachten, weil er häufig mit anderen Alltagsorten verbunden wird. Also mit Orten, an denen man einkauft, Erledigungen hat oder Kinder in die Schule, Betreuung etc. bringt. Deshalb sollten Supermärkte, Ärzte sowie Bildungs- und Betreuungseinrichtungen möglichst so platziert werden, dass sie auch beim Pendeln ohne Auto gut in den Weg zur Arbeit integriert werden können. Und natürlich geht es um einen klugen, vernetzten und flächendeckenden Infrastrukturausbau von zum Beispiel Schienen, Rad- und Fußwegen, Abstellanlagen oder E-Zapfsäulen, wenn nachhaltige Mobilität ganz grundsätzlich und speziell beim Pendeln zum Arbeitsort gelingen soll.


Über das Projekt
Das Projekt „PendelLabor – Wege zu einer nachhaltigen Stadt-Umland-Mobilität am Beispiel der Region Frankfurt Rhein-Main“ wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Förderschwerpunkt Sozial-ökologische Forschung im Förderbereich MobilitätsZukunftsLabor 2050 gefördert. Forschungs- und Praxispartner sind das ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung (Verbundleitung), TU Dortmund (Fachgebiet Stadt- und Regionalplanung), ivm GmbH, Hochschule Rhein-Main (Fachbereich Architektur und Bauingenieurwesen) sowie die Stadt Frankfurt am Main und der Regionalverband FrankfurtRheinMain. 

http://www.pendellabor.de

Autor*in

Luca Nitschke

Luca Nitschke ist seit November 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Mobilität und Urbane Räume. Er hat über Motivationen und Praktiken nicht-kommerziellen Carsharings an der TU München als Hans-Böckler-Stipendiat promoviert. Sein Interesse lag hierbei im Zusammenspiel von alternativen Mobilitätspraktiken und Veränderungsprozessen. Luca Nitschke hat seinen Master in Environmental Studies in Barcelona, Aveiro, Aalborg und New York und seinen Bachelor in Umweltwissenschaften in Bielefeld absolviert.

2 Kommentare zu “„Das Experiment hat uns überrascht“ – wie nachhaltiges Pendeln durch einen Reallabor-Versuch gelingen kann

  1. Michael Wenzel

    Vielen Dank für dieses Experiment und die geschilderten Ergebnisse.
    Um flächendeckend in den Kommunen eine entsprechende Veränderung der Verkehrsinfrastruktur und des Mobilitätsverhaltens zu befördern, braucht es mutige politische Entscheidungen und ein konsequentes Umsetzen durch die Verwaltungen. Leider sitzen genau an diesen Stellen der Entscheidungsträger (Kommunalpolitik und Bürgermeister) sowie der Umsetzenden (Verwaltungsangestellte) zu häufig ältere, autogerecht-denkende und wenig innovative Menschen, die überhaupt den Willen zu Veränderungen haben. Wie also soll eine Veränderung der Pendelroutinen in den Kommunen befördert werden, wenn junge kreative und nachhaltig denkende Menschen sich aus der ehrenamtlichen „hierarchisch-geprägten“ Kommunalpolitik zurückziehen oder nicht in „verstaubten“ Verwaltungen arbeiten wollen? Jedenfalls ist (leider) nicht absehbar, dass plötzlich alle Menschen GRÜN wählen oder die anderen Parteien nachhaltiger denken würden. Das zumindest meine Erfahrungen aus der Kommunalpolitik in Oldenburg.

    • Luca Nitschke

      Haben Sie vielen Dank für Ihr Interesse an diesem Interview und für Ihren Hinweis. Wir sehen Ihren Punkt, bei der Geschwindigkeit der Veränderungen ist – auch in den Kommunen – noch viel Luft nach oben. Verallgemeinern lässt sich die Einschätzung aus unserer Sicht aber nicht, da es durchaus vielerorts bereits mutige Entscheidungen an relevanten Schnittstellen gibt. Um von diesen Anfängen in die breite Transformation zu kommen, braucht es sicher den Mut und das Bewusstsein der jungen Generation. Und womöglich bietet sich durch den Generationenwechsel in den Kommunalverwaltungen ganz neue Möglichkeiten für Gestaltung. Insgesamt betrachtet stellt sich nach unserer Beobachtung die gegenwärtige Situation noch sehr schwierig dar, selbst für jene, die in den Kommunen Veränderungen wollen. Wo und wie anfangen? Deshalb denken wir, dass Projekte und Experimente wie das „PendelLabor“ dazu beitragen können, die Motivation in den Verwaltungen und der Lokalpolitik zu stärken, Handwerkszeug für die Veränderung zu vermitteln und die Mobilitätswende als ein gemeinsames Projekt zu verstehen, egal welcher Couleur.

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