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Thomas Jahn im Interview über Umweltwissenschaft, sozial-ökologische Krisen und ihre Gestaltungsmöglichkeiten

Vektorillustration mit sich überlagernden wellenförmigen Linien

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Thomas Jahn ist Mitbegründer des in den 1980er Jahren gegründeten ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung. Er hat die Nachhaltigkeitsforschung im deutschsprachigen Raum in entscheidender Weise geprägt. Im ISOE-Blog blickt er auf aktuelle Entwicklungen in der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik und plädiert für eine konsequente Anwendung des Vorsorge-, Verursacher-, Kooperations- und Gemeinlastprinzips.


Zuerst erschienen in: GAIA 32/1 (2023): S. 80–81 https://www.ingentaconnect.com/content/oekom/gaia/2023/00000032/00000001


1.    Welche sind aus Ihrer Sicht die drängendsten Umweltprobleme?

Ich denke hier an die Klima- und Biodiversitätskrise und die Folgen der weltweit wachsenden Einträge synthetischer Stoffe in die natürliche Umwelt. Sie sind existenziell gefährdend für die Fortsetzung der natürlichen und gesellschaftlichen Lebensprozesse. Wichtig ist für mich, diese Probleme als Krisen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu begreifen – also wie wir als in Gesellschaft lebende Individuen uns zur nicht menschlichen Natur und zu uns selbst in Beziehung setzen.

2.    Was gibt Ihnen Hoffnung auf eine Verbesserung der Umweltsituation?

Mir macht Hoffnung, dass die von den vielen sozialen Bewegungen und Initiativen fordernd zum Ausdruck gebrachte Einsicht, „dass es so nicht weitergehen kann“, inzwischen auch in Teilen der Wirtschaft und etablierten Politik angekommen ist. Und dass trotz aller gewalttätigen Konflikte die Weltgemeinschaft zu Einigungen kommen kann, die einen Unterschied machen, wie etwa das Montreal-Protokoll, die Einrichtung des Weltklima- und Weltbiodiversitätsrats oder die Verabschiedung der Sustainable Development Goals. Nicht zuletzt schöpfe ich Hoffnung aus der Überzeugung, dass es für jede Generation die Chance auf einen Neuanfang gibt, für den es sich zu kämpfen lohnt.

3.    Welche umweltpolitische Reform schätzen Sie am meisten?

In einer Zeit sozial-ökologischer Krisen und Katastrophenerfahrungen sollten bei Reformen die geltenden Prinzipien der Umweltpolitik wie das Vorsorge-, Verursacher-, Kooperations- und Gemeinlastprinzip konsequent angewendet werden – mit einer klaren Präferenz für die ersten beiden. Auch denke ich, dass punktuelle oder auf einzelne Handlungsfelder begrenzte Reformvorhaben ein transformatives politisches Wirkungspotenzial über den unmittelbaren Geltungsbereich hinaus entfalten können sollten. So wünsche ich mir etwa, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz der Bundesregierung eine Wirkung über dessen bloße Nachbesserung hinaus haben wird.

4.    Welchen Trend in der Umweltpolitik halten Sie für eine Fehlentwicklung?

Ich halte es für falsch, an einer Fortschrittsidee festzuhalten, die vor allem auf technologische Lösungen setzt und einem Steigerungsimperativ folgt: Steigerung des ökonomischen Wachstums sowie der individuellen und gesellschaftlichen (Selbst-)Optimierung. Daraus folgt immer auch, die Eingriffstiefe in natürliche Prozesse und Strukturen steigern zu müssen.

5.    Wozu Umweltforschung?

Umweltforschung verstehe ich als sozial-ökologische Forschung. Diese hat aus meiner Sicht die Aufgabe, über die nun schon seit Jahren immer genaueren Datensammlungen und

-analysen hinauszugehen: In inter- und transdisziplinären Kooperationen mit anderen Wissensformen soll sie kritisch geprüftes Gestaltungswissen für Handlungs- und Entwicklungsalternativen erzeugen. „Umweltforschung“ in diesem Sinne ist für mich kritische Möglichkeitsforschung.

6.    Welche Erfahrungen haben Sie beim Transfer wissenschaftlicher Erkenntnis in die Praxis gesammelt?

Wir müssen endgültig von der Idee einer bloßen, einseitigen Weitergabe von Wissen Abschied nehmen. Der Wissenstransfer verläuft umso besser, je stärker er mit der Lebenswirklichkeit in Resonanz kommt. Das heißt, er muss die Interessen, Alltagserfahrungen und Bedürfnisse eines breiten Spektrums von Akteursgruppen aufnehmen. Und er muss deren Handlungspotenziale und -restriktionen, also die jeweiligen Machtverhältnisse, beachten. Beides erfordert, Transfer als Teil der Forschungsarbeit zu begreifen – dabei gilt es, heterogene Erkenntnisinteressen und gemeinsame Lernprozesse in den Blick zu nehmen.

7.    Welchen Bereich der Umweltwissenschaften – außerhalb Ihres Arbeitsgebiets – finden Sie besonders spannend?

Ich finde es spannend, mich mit neuen Erzählungen und neuen Erzählweisen zu beschäftigen – besonders mit Blick auf die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur. Für mich ist interessant zu beobachten, wie nach und nach auch in anderen Wissenschaftsbereichen die gesellschaftlichen Naturverhältnisse und ihre Krisen in den Fokus gerückt werden – und das bis hinein in den Bereich der etablierten Grundlagenforschung, wie etwa die Gründung des Max-Planck-Instituts für Geoanthropologie im letzten Jahr zeigt.

8.    Wer oder was hat Sie in Ihrem Engagement für die Umwelt besonders geprägt?

Prägend waren für mich die sozialen Bewegungen Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre, das damalige intellektuelle und politische Milieu in Frankfurt am Main mit politischen Debatten und Konflikten, in denen sich mein sozial-ökologisches Grundverständnis der „ökologischen Krise“ bereits in Umrissen abgezeichnet hat. Vor allem aber hat mich das ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung als Denkkollektiv und kooperativer Arbeitszusammenhang geprägt; seine Beharrlichkeit, die Idee einer kritisch-konstruktiven, reflexiven Wissenschaft praktisch zu verfolgen und sich dafür immer wieder der Notwendigkeit zu stellen, neue Wege zu suchen und zu beschreiten.

9.    Welches Wissen würden Sie jungen Menschen über die Umwelt mitgeben wollen?

Die Freude und das Interesse an kritischem Denken. Für mich ist das ein Denken, das immer auch auf Theoriebildung angelegt und ein wichtiger Zugang zum Entschlüsseln der Welträtsel, aber auch der Rätsel der eigenen Lebensgeschichte ist.

10.   Mit welchen Widersprüchen im Alltag sind Sie als Wissenschaftler, der sich mit Nachhaltigkeitsproblemen beschäftigt, konfrontiert?

Vermutlich kämpfe ich mit ähnlichen Widersprüchen wie andere: den eignen wissensbasierten Ansprüchen, das Richtige zu tun, gerecht zu werden. Was mich stört, ist, wenn notwendige regulatorische Maßnahmen blockiert werden, indem reflexhaft an individuelle Verhaltensänderungen der eigenen Lebenspraxis appelliert wird – ohne anzuerkennen, wie stark diese individuellen Entscheidungen von politischen und gesellschaftlichen Strukturen und fehlender Handlungsmacht abhängig sind.

11.   Was lesen Sie gerade?

Ich lese das vielfältig überraschende Buch Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit von David Graeber und David Wengrow. Und – nicht zum ersten Mal – den kurzen, scharfsinnigen Text Kapitalismus als Religion von Walter Benjamin.

12.   Welche hier nicht gestellte Frage ist für Sie die wichtigste?

Zu den wichtigen Fragen gehört aktuell für mich, wie in Zeiten der weltgeschichtlichen Krisensituation „antagonistische Kooperationen“ gedacht werden und gelingen können. Die Entscheidungen zur Bewältigung der aktuellen Krisen können nicht warten, bis der Kapitalismus überwunden ist – ohne dessen Überwindung wird es aber längerfristig zu keiner nachhaltigen und gerechten Einrichtung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse kommen können.


Autor*in

Thomas Jahn

Thomas Jahn war bis März 2021 Sprecher der Institutsleitung des ISOE und wissenschaftlicher Geschäftsführer. Er ist Mitbegründer des Instituts und war bis September 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Transdisziplinäre Methoden und Konzepte, den er bis 2015 leitete. Unter anderem arbeitet er zu gesellschaftlichen Naturverhältnissen, transdisziplinären Methoden und Konzepten sowie zur sozial-ökologischen Wissenschaftsforschung. Im Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum (SBiK-F) war Thomas Jahn Sprecher des Tätigkeitsschwerpunkts „Ökosystemleistungen und Klima“. Thomas Jahn studierte Soziologie, Politik, Germanistik und Geschichte an den Universitäten Freiburg und Frankfurt am Main und promovierte 1989 zum Thema „Krise als gesellschaftliche Erfahrungsform. Umrisse eines sozial-ökologischen Gesellschaftskonzepts“.

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