Biodiversität Energie Klimaschutz Landnutzung Mobilität Transdisziplinarität

Lützerath und Fechenheimer Wald: Gegenwärtige Nachhaltigkeitskonflikte und ihre Herausforderungen für transdisziplinäre Forschung

Lützerath / Tagebau Garzweiler (© Cornelius Otto - stock.adobe.com)

Lützerath / Tagebau Garzweiler (© Cornelius Otto - stock.adobe.com)

Die aktuellen Auseinandersetzungen um „Klima versus Kohle“ in Lützerath oder „Wald versus Asphalt“ in Frankfurt am Main werden derzeit in den Medien, in der Politik und am Stammtisch breit diskutiert. Die transdisziplinäre Forschung hat den Anspruch, krisenhafte Entwicklungen durch gestalterische Ansätze in nachhaltige Bahnen zu lenken. In diesem Beitrag gehen wir der Frage nach, inwiefern sich aus den aktuellen Konflikten besondere Herausforderungen für die transdisziplinäre Forschungspraxis ergeben.

Das noch junge Jahr 2023 hat schon mehrere und zum Teil auch gewalttätige Auseinandersetzungen um Klima, Energie und Mobilität erlebt: Am zweiten Januarwochenende protestierten 35.000 Menschen bei Lützerath in Nordrhein-Westfalen gegen die Ausweitung des von der RWE AG betriebenen Braunkohletagebaus Garzweiler. Schon vorher hatte es immer wieder Proteste gegen das Vorrücken des Tagebaus gegeben. Nach einem Kompromiss zwischen Bundesregierung und RWE zum Ausstieg aus der Braunkohleverstromung bis 2030 im vergangenen Dezember wurde der Abriss des Ortes Lützerath mit Verweis auf die kurzfristige Energiesicherheit im Januar 2023 durchgesetzt. Gegen die Räumung protestierten im Aktionsbündnis „Lützerath unräumbar“ zusammengeschlossene Klimaschützer*innen. Bei den Demonstrationen, an denen auch die bekannten Klimaaktivistinnen Greta Thunberg und Luisa Neubauer teilnahmen, kam es zu zahlreichen körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei.

In Frankfurt am Main kamen ebenfalls im Januar 250 Menschen zu einem „Waldspaziergang“ in den Fechenheimer Wald. Sie wollten ein Zeichen setzen gegen die Rodung eines zwei Hektar großen Waldstücks für den Bau des sogenannten Riederwaldtunnels, der A66 und A661 verbinden soll. Die Spaziergänge finden bereits seit dem Herbst 2021 jeden Sonntagnachmittag statt. Die Proteste und auch ein Eilantrag gegen das Vorhaben beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof blieben erfolglos. In der darauffolgenden Woche wurden die Fechenheimer Baumbesetzer*innen samt ihren Baumhäusern geräumt und die Bäume gefällt.

Ob gegen nicht nachhaltige Energie- und Mobilitätsformen oder für Umwelt- und Klimaschutz – Auseinandersetzungen um Nachhaltigkeit in Deutschland sind in unserer Wahrnehmung gegenwärtig sehr präsent. Das spiegelt sich auch medial wider: Beispielweise diskutierten die Gäste der Talkshow „Anne Will“ in den vergangenen Wochen mehrfach über diese Themen.[1] Weitere Beispiele für die Aktualität solcher Konflikte um Nachhaltigkeit sind die Ereignisse rund um den Hambacher Forst (2018), den Dannenröder Forst (2020), die IAA Mobility in München (2021) oder die Besetzung des Flughafens Berlin-Brandenburg (2022).

Neben dem offensichtlichen Bezug zu Umwelt- und Klimathemen weisen die Konflikte weitere Gemeinsamkeiten auf, die wir im Folgenden anhand der Ereignisse in Lützerath und dem Fechenheimer Wald darstellen wollen. Daraufhin diskutieren wir, inwiefern diese teils bekannten, teils neuen Konfliktcharakteristika bestehende Herausforderungen in der transdisziplinären Forschungspraxis verstärken.

Charakteristika aktueller Konflikte um Klima und Umwelt

1. Vergangene politische Entscheidungen treffen auf neue Realitäten

Bei vielen der aktuellen Auseinandersetzungen wurden politische, administrative oder unternehmerische Grundsatzentscheidungen schon vor Jahrzehnten getroffen. Beispielsweise diskutierten Politik und Öffentlichkeit in Frankfurt am Main schon in den 1960er Jahren über eine Autobahnverbindung durch den Fechenheimer Wald, eine Befahrung scheint nun laut der bundeseigenen Autobahn GmbH frühestens ab 2031 möglich zu sein.[2] Aufgrund langer Planungs- und Entscheidungsprozesse sowie Klagen und Proteste, die den Bau verzögerten, treffen die damaligen Begründungen für ein spezifisches Vorhaben nun auf eine Realität, die von Biodiversitäts- und Klimakrise gekennzeichnet ist.

2. Kurzfristige Konfliktlösung trifft auf langfristige Problemverschärfung

Unterschiedliche Zeitlichkeiten drücken sich auch im Aufeinanderprallen kurzfristiger und langfristiger Argumentationslogiken aus. In Lützerath wird die Energiesicherheit für die kommenden Winter mit der langfristig wirkenden Klimakrise abgewogen. Und im Fechenheimer Wald die angenommene kurzfristige Verkehrsentlastung mit der Angst vor einer langfristigen Zementierung des automobilen Status quo.

3. Grüne Partei trifft auf Klimabewegung

In vielen der aktuellen Konflikte findet sich die Partei Bündnis 90/Die Grünen plötzlich auf der „anderen“ Seite wieder. Mona Neubaur und Robert Habeck rechtfertigten öffentlich die Räumung und den Abriss von Lützerath für 280 Millionen Tonnen CO2[3] und der grüne Verkehrsminister in Hessen, Tarek Al-Wazir, verteidigte den Bau von neuen Autobahnen.[4] In erheblichen Teilen der von Fridays for Future und Co. geprägten Klimabewegung trifft diese Positionierung auf wenig Verständnis und auch Basisgrüne stellen die Entscheidungen ihrer Parteispitzen öffentlich infrage.[5] Entlang der Entscheidungen um Lützerath oder den Fechenheimer Wald bilden sich nun womöglich neue Konfliktlinien zwischen ehemals verbündeten Akteuren aus.

4. „Kohle-Kompromisse“ treffen auf Klimaverträge

Klimaaktivist*innen weisen darauf hin, dass die Pariser Klimaziele schwerlich erreicht werden können, wenn schon bestehende Planungen eingehalten werden, die etwa den Abbau fossiler Energieträger oder den Bau neuer Autobahnen vorsehen. Welche der miteinander in Konflikt stehenden Vereinbarungen letztlich erfüllt werden können – Paris, Kohlekompromisse oder Bundesverkehrswegepläne –, wird auch in den aktuellen Auseinandersetzungen um Lützerath oder den Fechenheimer Wald verhandelt. Dementsprechend treffen dort nicht nur unterschiedliche Zeitlichkeiten und neue Akteurskonstellationen, sondern auch gegebenenfalls in Konflikt stehende rechtliche Ansprüche aufeinander.[6]

5. Rechtsprechung trifft auf politische Verantwortung

Verbunden damit ist auch die argumentative Darstellung des Zusammenspiels von gerichtlichen, parlamentarischen und exekutiven Entscheidungen in den Auseinandersetzungen interessant. Im Fall von Lützerath haben Landespolitiker*innen auf das Primat von Gerichtsentscheidungen verwiesen[7], und beim Autobahnbau im Fechenheimer Wald beruft sich der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir auf bundespolitische Zwänge.[8] Demgegenüber verweist zum Beispiel das Oberverwaltungsgericht Münster in seinem Urteil zur Räumung von Lützerath auf die politisch-legislative Rahmensetzung für seine gerichtlichen Entscheidungen.[9] Dementsprechend werfen die aktuellen Konflikte die Frage auf, welche der drei Gewalten für die Nachhaltigkeitstransformation eigentlich „zuständig“ ist.

6. Lokale Ursachen, globale Krisen und regionale Proteste

Die Klimakrise ist ein globales Problem mit vielfältigen und teils sehr lokalen Ursachen. Die Konsequenzen ökologischer Krisen sind ebenfalls sozial und geographisch sehr ungleich verteilt. Statistisch gesehen leiden die Menschen, die am wenigsten zur Klimakrise beitragen, am stärksten darunter.[10] Konkrete Auseinandersetzungen wie um Lützerath oder den Fechenheimer Wald finden also im Kontext von räumlichen Ungleichheiten statt.

Herausforderung für die transdisziplinäre Forschungspraxis

Transdisziplinarität als Forschungsmodus verbindet das Verstehen krisenhafter Entwicklungen und daraus resultierender Probleme mit einer kritischen Bewertung bestehenden und neu zu generierenden Wissens sowie der Identifizierung nachhaltiger Gestaltungsoptionen in spezifischen Handlungsfeldern.[11] Dies geschieht häufig im Rahmen öffentlich geförderter, mehrjähriger Projekte, in denen relevante Akteure aus Wissenschaft und Praxis gemeinsam an einem zeitlich und räumlich eingegrenzten sozial-ökologischen Problem arbeiten.

Auch die Konflikte um den Fechenheimer Wald oder Lützerath können im Kontext solcher krisenhaften Entwicklungen und damit als möglicher Gegenstand transdisziplinärer Forschung gesehen werden. Jedoch stellen die oben beschriebenen Charakteristika die transdisziplinäre Forschung vor mehrere praktische Herausforderungen. Diese sind nicht unbedingt neu, aber sie werden in den aktuellen Konflikten verstärkt sichtbar. Im Folgenden wollen wir diese Herausforderungen entlang von drei zentralen Begriffen des transdisziplinären Forschungsmodus – Krise, Kritik, Gestaltung – darstellen. Mit der Frageform wollen wir zu einer offenen Diskussion innerhalb der transdisziplinären Nachhaltigkeitscommunity einladen.

Krise: Auf welcher Ebene kann transdisziplinäre Forschung eigentlich Krisen verstehen? Wie können auch in lokale Konflikte überregionale, nationale und internationale Dimensionen einbezogen werden? Wer sind dann die Akteure und welche wissenschaftlichen Disziplinen müssen vertreten sein? Steht damit also die Frage, wer einbezogen wird, im Vordergrund oder eher wie Integrationsstrategien und -methoden aussehen müssen, damit eine Verbindung verschiedener räumlicher Ebenen gelingt.

Kritik: Wie kann in der Bearbeitung solcher konfliktiver Entwicklungen die normative Seite der transdisziplinären Forschung zur Geltung kommen? Oder anders gefragt: Wie kann transdisziplinäre Forschung für die Nachhaltigkeit Partei ergreifen, ohne dabei parteiisch zu sein? Und wie kann eine kritische Reflexion unserer Rolle als Wissenschaftler*innen umgesetzt werden, ohne den normativen Anspruch aufzugeben?

Gestaltung: Was soll gestaltet werden? Geht es in Fechenheim „nur“ um den Erhalt des Waldes oder „nur“ um die Verhinderung des Autobahnbaus? Und wenn nicht, wie kann in einem solchen konkreten Fall die Erfüllung größerer gesellschaftlicher Grundbedürfnisse nach beispielsweise Verkehrsentlastung in der Stadt mit Nachhaltigkeitsprinzipien in Einklang gebracht werden? Wie kann die transdisziplinäre Forschung hier eine Gestaltungsebene finden, die den Problemkern trifft, im aktuellen Akteurssetting bearbeitbar ist und eine nachhaltige Ko-Produktion erlaubt? Verbunden damit: Wann ist der richtige Zeitpunkt, krisenhafte Entwicklungen transdisziplinär zu bearbeiten? Kann die transdisziplinäre Forschung in Lützerath oder Fechenheim überhaupt noch zu einer nachhaltigen Problemlösung beitragen?


[1] https://daserste.ndr.de/annewill/index.html

[2] https://www.autobahn.de/die-autobahn/projekte/detail/a-66-riederwaldtunnel

[3] https://www.swr.de/swr2/wissen/wie-viel-kohle-liegt-unter-luetzerath-und-brauchen-wir-die-104.html

[4] https://www.hessenschau.de/politik/frankfurter-riederwaldtunnel-al-wazir-erteilt-baustopp-forderung-der-gruenen-eine-absage-v1,frankfurt-riederwaldtunnel-gruene-al-wazir-100.html

[5] https://www.tagesspiegel.de/politik/offener-brief-gegen-lutzerath-abriss-grunen-basis-begehrt-gegen-habeck-auf-9175203.html

[6] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/luisa-neubauer-und-carola-rackete-ueber-protest-im-dannenroeder-forst-a-7cae1bae-331f-48d3-a231-cf25dd076bcd

[7] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/energie-erkelenz-ministerin-neubaur-will-in-luetzerath-konflikt-deeskalieren-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-221206-99-796938

[8] https://www.hessenschau.de/politik/frankfurter-riederwaldtunnel-al-wazir-erteilt-baustopp-forderung-der-gruenen-eine-absage-v1,frankfurt-riederwaldtunnel-gruene-al-wazir-100.html

[9] https://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilungen/01_archiv/2022/21_220328/index.php

[10] https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-11/oxfam-treibhausemissionen-studie-reiche-arme-co2-ungleichheit?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

[11] Jahn, Thomas (2021): Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung – Methoden, Kriterien gesellschaftliche Relevanz. In: Blättel-Mink, Birgit/Thomas Hickler/Sybille Küster/Henrike Becker (Hg.): Nachhaltige Entwicklung in einer Gesellschaft des Umbruchs. Wiesbaden: Springer VS, 141-156


Autor*innen

David Kuhn

David Kuhn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ISOE im Forschungsschwerpunkt Wasserressourcen und Landnutzung und Doktorand in der Nachwuchsforschungsgruppe regulate. Hier beschäftigt er sich mit Konflikten, Machtbeziehungen und Ungleichheiten in der Nutzung und Regulierung von Grundwasser. Nach seinem Politikwissenschafts-Studium (B.A.) an der Freien Universität Berlin mit den Schwerpunkten Politische Theorie, Gender Studies und Konfliktforschung absolvierte er das interdisziplinäre Masterprogramm Sustainable Development (M.Sc.) an der Universität Utrecht (Niederlande) mit dem Schwerpunkt Governance von sozial-ökologischen Systemen. In seiner Masterarbeit untersuchte er Erfolgsfaktoren für die transdisziplinäre Wissensproduktion in der Wasserwiederverwendung. Am inter 3 Institut für Ressourcenmanagement in Berlin hat David Kuhn an einem Praxisbuch zu transdisziplinärem Innovationsmanagement mitgearbeitet.

Luca Nitschke

Luca Nitschke ist seit November 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Mobilität und Urbane Räume. Er hat über Motivationen und Praktiken nicht-kommerziellen Carsharings an der TU München als Hans-Böckler-Stipendiat promoviert. Sein Interesse lag hierbei im Zusammenspiel von alternativen Mobilitätspraktiken und Veränderungsprozessen. Luca Nitschke hat seinen Master in Environmental Studies in Barcelona, Aveiro, Aalborg und New York und seinen Bachelor in Umweltwissenschaften in Bielefeld absolviert.

Thomas Fickel

Thomas Fickel ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am ISOE und arbeitet im Forschungsschwerpunkt Biodiversität und Bevölkerung. Nach Studienaufenthalten in Marburg und Prag absolvierte er den Master „Internationale Studien/Friedens- und Konfliktforschung“ an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und promoviert dort aktuell im Bereich Politikwissenschaften. Seine Forschungsthemen sind die Analyse von Biodiversitätskonflikten im Bereich Landwirtschaft und deren Transformation.

2 Kommentare zu “Lützerath und Fechenheimer Wald: Gegenwärtige Nachhaltigkeitskonflikte und ihre Herausforderungen für transdisziplinäre Forschung

  1. Julia Krohmer

    In der Mitte des Textes schreibt Ihr „Fechenheimer Forst“ – würde ich ändern, denn das ist wirklich kein Forst und wird auch von niemand so bezeichnet.
    Und zu den Waldspaziergängen:
    Da fand nicht nur ein Spaziergang im Januar 2023 statt, sondern ab Herbst 2021 (!) hat ein breites Unterstützerbündnis wöchentlich (immer Sonntag Nachmittag um 14:00) thematisch äußerst breit Waldspaziergänge organisiert.
    Wenn das für Euch interessant ist, kann ich gerne die Liste der Redner:innen und Themen organisieren.

    • Nicola Schuldt-Baumgart

      Vielen Dank für Ihre wertvollen Ergänzungen. Mit beiden liegen sie vollkommen richtig. Bzgl. der Historie der Waldspaziergänge haben wir einen Satz ergänzt und freuen uns wenn sie uns einen Weblink für eine Verlinkung zu mehr Informationen zu den Spaziergängen schicken. Die Benennung als Fechenheimer Forst haben wir entsprechend abgeändert.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.