In der Fördermaßnahme des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) „BioTip – Kipppunkte, Dynamik und Wechselwirkungen von sozialen und ökologischen Systemen“ forschen rund 130 Wissenschaftler*innen seit 2019 in sieben internationalen Projekten zu den Wirkungsketten, die Ökosysteme zum Kippen bringen können. An zwei dieser Projekte ist auch das ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung beteiligt. In einer Mitteilung des BMBF vom 9. Juni wurde das vorzeitige Ende der Fördermaßnahme angekündigt. Im ISOE-Blog sprechen Flurina Schneider und Marion Mehring über die Konsequenzen dieser Entscheidung, sowohl für die Projekte, die Forschenden als auch für die internationale Biodiversitätsforschung.
Prof. Dr. Flurina Schneider ist wissenschaftliche Geschäftsführerin des ISOE
Dr. Marion Mehring leitet am ISOE den Forschungsschwerpunkt Biodiversität und Bevölkerung
Das ISOE ‒ Institut für sozial-ökologische Forschung ist an zwei Projekten der BMBF-Fördermaßnahme BioTip beteiligt. Worum geht es in diesen Forschungsprojekten genau?
Marion Mehring: Insgesamt sieben Forschungsprojekte der Fördermaßnahme BioTip untersuchen sogenannte Kipppunkte in Ökosystemen. Große Ökosysteme, wie der Regenwald im Gebiet des Amazonas, sind auch für unsere eigenen Lebensgrundlagen existenziell. Der Klimawandel, der Ressourcenabbau, aber auch die wachsende Verstädterung erhöhen stetig den Druck auf diese Ökosysteme. Wir wissen aus der Forschung, dass es in diesen, aber auch in kleinräumigeren Ökosystemen in der Folge zu komplexen, oft zeitverzögerten und sich gegenseitig verstärkenden Wechselwirkungen kommt, die wir im Moment noch nicht ausreichend verstehen. Gegenwärtig erkennen wir oft erst im Nachhinein, wann ein Ökosystem einen sogenannten Kipppunkt überschritten hat. In den BioTip-Projekten untersuchen wir seit 2019, teilweise schon seit 2018, die gesellschaftlichen und ökologischen Wirkungsketten in Ökosystemen an verschiedenen Standorten der Welt. Im ISOE erforschen wir nun gemeinsam mit nationalen und internationalen Partnern unter anderem das Problem der Bodendegradation, also der Verschlechterung von Böden bis hin zur Unfruchtbarkeit, in der mongolischen Steppe und in der namibischen Savanne. Diese Graslandschaften sind Beispiele für die letzten intakten Ökosysteme ihrer Art mit traditioneller Landnutzung und bedeutender Biodiversität.
Was macht diese Ökosysteme so besonders?
Marion Mehring: Es sind besonders fragile Ökosysteme an extremen Standorten, die natürlicherweise bereits sehr trocken sind. Schon kleinere Veränderungen, etwa eine langanhaltende Dürre oder eine verstärkte Beweidung, können gravierende Auswirkungen haben. Ein Beispiel: Werden Weideflächen übernutzt, kann dies zu einer drastischen Verschlechterung der Bodenqualität führen. Damit nimmt die Bodenfruchtbarkeit ab. Und dieser Prozess kann nicht einfach wieder rückgängig gemacht werden. Wertvolles und fruchtbares Land ist dann verloren gegangen – ein sogenannter Kipppunkt ist also überschritten. All das hat weitreichende Konsequenzen für die Lebensgrundlage der lokalen Bevölkerung und für die Vielfallt an Wildpflanzen und Wildtieren.
Was bedeutet das überraschende Ende der Fördermaßnahme BioTip?
Marion Mehring: Das überraschende Aus der zweiten Förderphase bedeutet nicht nur eine große Unsicherheit für die in diesen Projekten arbeitenden Nachwuchswissenschaftler*innen und ihre wissenschaftlichen Karrieren, die ja sehr eng mit den Forschungsfragen der Projekte verbunden sind. Folgenschwer ist das auch für unsere Forschungs- und Praxispartner in Namibia und der Mongolei. Besonders gravierend ist es aber für Biodiversitätsforschung selbst. Nach der mehrjährigen Vorbereitungsphase in den Projekten steht jetzt in der zweiten Förderphase – und dafür war sie ausdrücklich und von Anfang an vorgesehen – der Transfer der von uns erarbeiteten Handlungsstrategien in die Praxis an. Diese letzte Ertragsphase, in der wir valide Forschungsergebnisse für die Kipppunktforschung generieren wollen, wird nach gegenwärtigem Stand nicht mehr genutzt werden können.
Hat der Förderstopp Konsequenzen für die internationale Biodiversitätsforschung?
Flurina Schneider: Es gibt in der Biodiversitätsforschung tatsächlich noch große Wissenslücken, gerade in Bezug auf die Kipppunkte. Um es mit einem Vergleich zu erklären: Wir reden hier nicht von den vielen Teichen und Seen, denen gerade die aktuelle Hitzewelle so zusetzt, dass sie – wie es umgangssprachlich dann oft heißt – „kippen“, weil der Sauerstoffgehalt drastisch abnimmt, denn dabei handelt es sich nicht um Kipppunkte in unserem Verständnis, da die Teiche sich wieder erholen. Wir sprechen von Kipppunkten, wenn Funktionen in Ökosystemen langfristig verloren gehen, weil sie sich nicht mehr erholen können. Diese Kipppunkte müssen für jedes Ökosystem einzeln untersucht werden, denn ein Wald funktioniert zum Beispiel anders als eine Steppe oder eine Savanne. Die Forschung dazu ist auch deshalb so komplex, weil es viele Wechselwirkungen mit zum Teil negativen Rückkoppelungen auf die anderen Ökosysteme oder das globale Klima gibt. Und es gibt keine Lösungen, die von einem auf das andere Ökosystem eins zu eins übertragen werden könnten. Deshalb hat es natürlich Konsequenzen für die internationale Biodiversitätsforschung, wenn wegen des drohenden Förderstopps keine konkreten Ergebnisse zu den gewählten Standorten gewonnen, ausgewertet und zusammengeführt werden können.
Marion Mehring: Erschwerend kommt hinzu, dass die Projekte von BioTip explizit darauf angelegt waren, einen Beitrag zu internationalen Gremien wie dem Weltbiodiversitätsrat IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services), zur Biodiversitätskonvention CBD und zu anstehenden Klima-COPs zu leisten. Der Weltbiodiversitätsrat hat ja gerade ganz aktuell in seinem jüngsten Expertenbericht die Bedeutung und Dringlichkeit eines nachhaltigen Artenschutzes nochmal betont. Mit dem Ende der Förderung der BioTip-Projekte geht eine Chance verloren, Schlüsselfaktoren für die weltweite Biodiversitätskrise zu identifizieren.
Heißt das, die Biodiversitätsforschung wird ein Stück weit um den sogenannten „Impact“ gebracht?
Flurina Schneider: Ja, und das ist sehr frustrierend für die Forscher*innen. Das BMBF hat in seiner Mitteilung vom 9. Juni als Grund für den Förderstopp argumentiert, man wolle „hin zu Forschungsaktivitäten, die einen schnellen Impact erzeugen“. Das können wir nicht nachvollziehen, denn der Impact für die Biodiversitätsforschung ist an diesem Punkt der Forschungsphase zum Greifen nah. Nicht ohne Grund war in der Fördermaßnahme BioTip ja auch von Beginn an diese zweite Phase vorgesehen, weil zu diesem Zeitpunkt mit dem höchsten zu erwartenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Ertrag zu rechnen ist. Und noch im Oktober 2021 hat das BMBF alle beteiligten Projekte zu einer BioTip-Midterm-Konferenz namens „The Future of BioTip“ eingeladen. Es handelt sich, das muss man nochmal deutlich sagen, also nicht um ein loses „Anschlussprojekt“, wie es jetzt als Reaktion aus dem BMBF auf die vielen Beschwerden von betroffenen Wissenschaftler*innen heißt. Es handelt sich um einen integralen Bestandteil einer Fördermaßnahme zu den Grenzen der Widerstandskraft von Ökosystemen.
Was bedeutet diese Entscheidung Ihrer Meinung nach für Deutschland als Wissenschaftsstandort?
Flurina Schneider: Wenn Förderzusagen für Forschungsprojekte ausgerechnet vor der anstehenden Transferphase zurückgezogen werden, führt das natürlich zu einer großen Verunsicherung und einem Vertrauensverlust bei Forscher*innen. Die Forschungsergebnisse können nicht adäquat ausgewertet, zusammengeführt und publiziert werden. Qualifikationsarbeiten können nicht abgeschlossen werden. Auch der gesellschaftliche Nutzen einer Forschungslinie, die das BMBF mit bislang mehr als 20 Mio. Euro gefördert hat, kommt voraussichtlich nicht zum Tragen. Hinzu kommt ein Reputationsverlust bei unseren internationalen Forschungs- und Praxispartnern, denn unsere transdisziplinäre Forschung zeichnet aus, dass wir eng mit Politik, Wirtschaft und gesellschaftlichen Akteur*innen vor Ort zusammenarbeiten. Das gewährleistet, dass Ergebnisse und Lösungen in der Praxis tatsächlich umgesetzt werden.
Wie könnte eine gute Lösung aussehen?
Marion Mehring: Mit einer wenigstens einjährigen Abschlussfinanzierung könnten wir gewissermaßen noch Schadensbegrenzung betreiben und müssten nicht von jetzt auf gleich unsere Arbeit beenden. Darüber würden wir gerne mit dem BMBF sprechen, denn eine geregelte Beendigung der Forschungsprojekte an den internationalen Standorten ist auch für die vielen Partner in den Ländern vor Ort wichtig. Aber für eine wirklich gute Lösung müsste ganz grundsätzlich von den Verantwortlichen gesehen werden: Der Kollaps der Ökosysteme pausiert nicht. Und die Zeit drängt. Ein weiteres Scheitern der Biodiversitätsziele, verbunden mit einem weiteren Verlust der Artenvielfalt, können wir uns nicht leisten.
Flurina Schneider: Natürlich sehen wir, dass sich gegenwärtig angesichts vieler großer Krisen die Schwerpunkte in der Politik ändern und auch ändern müssen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass der Klimawandel und das Artensterben nach wie vor eine existenzielle Bedrohung unserer Lebensgrundlagen darstellen. Nicht ohne Grund hat die Bundesregierung den Erhalt der Artenvielfalt im Koalitionsvertrag als „Menschheitsaufgabe“ bezeichnet, und um nicht weniger geht es. Und damit geht es auch ganz grundsätzlich um die Frage, wie wir als Gesellschaft künftig mit der Natur umgehen. Die Zeiten, in denen wir wie selbstverständlich Ökosysteme bedenkenlos nutzen konnten sind endgültig vorbei. Wir benötigen daher unbedingt eine langfristige Perspektive für die sozial-ökologische Biodiversitätsforschung im Zuge der „Zukunftsstrategie“, die die Bundesregierung aktuell neu erarbeitet.
Mehr zu den BioTip-Forschungsprojekten des ISOE:
https://www.isoe.de/nc/forschung/projekte/project/namtip/
https://www.isoe.de/nc/forschung/projekte/project/more-step-1/
0 Kommentare zu “„Der Impact ist zum Greifen nah“ – Warum der Förderstopp für „BioTip“ auch Konsequenzen für die internationale Biodiversitätsforschung hat”