Transdisziplinarität

Wissenschaftliche Wirkungen transdisziplinärer Forschung – veränderte Probleme, andere Ergebnisse und mehr Reflexivität

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Transdisziplinäre Forschung strebt nach Wirkungen sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft. Während die gesellschaftlichen Wirkungen transdisziplinärer Projekte in den letzten Jahren ausführlich erforscht wurden, werden die wissenschaftlichen Wirkungen dieses Forschungsmodus bislang wenig beachtet. In einer Interviewstudie haben wir daher untersucht, wie sich transdisziplinäre Forschung auf wissenschaftliches Wissen und wissenschaftliches Arbeiten jenseits von Zitationsanzahlen und eingetriebenen Forschungsgeldern auswirkt.

Der transdisziplinäre Forschungsmodus zeichnet sich durch vier Merkmale aus: durch den Fokus auf komplexe gesellschaftliche Probleme, die Beteiligung von Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen und Expert*innen aus der Praxis, die Integration unterschiedlicher Perspektiven sowie durch das Streben nach Wirkungen sowohl im Untersuchungsfeld als auch in der Wissenschaft. Im Projekt tdAcademy haben wir eine explorative empirische Studie durchgeführt, um genauer zu erforschen, wie sich die genannten Merkmale auf das erzeugte wissenschaftliche Wissen und auf individuelle Wissenschaftler*innen auswirken. Üblicherweise wird die Wirkung von Forschungsergebnissen mit metrischen Indikatoren wie beispielsweise Anzahl an Zitationen von publizierten Artikeln gemessen. Mit unserer Studie haben wir bewusst einen breiteren Ansatz gewählt, der über diese Indikatoren hinausblickt.

Forschungsdesign

Für unsere Studie konzentrierten wir uns auf drei Teildisziplinen: Umweltsoziologie, nachhaltige Chemie und partizipative Gesundheitsforschung. In qualitativen Leitfadeninterviews mit Wissenschaftler*innen, die fest in diesen Disziplinen etabliert sind und gleichzeitig Erfahrungen mit transdisziplinären Forschungsprojekten haben, untersuchten wir die Wirkungen transdisziplinärer Forschung in diesen drei Disziplinen. Das ausführliche Forschungsdesign haben wir bereits in einem früheren Blogpost erklärt. Wir werteten die Interviews aus, indem wir wiederkehrende Muster und Zusammenhänge in den Aussagen der Befragten identifizierten. Unsere Analyse zeigte, dass der transdisziplinäre Forschungsmodus sich auf drei unterschiedliche Bereiche der Wissenschaft auswirkt: Er bewirkt ein verändertes Problemverständnis, andere Ergebnisse und eine verstärkte Reflexivität der Forschenden.

Verändertes wissenschaftliches Problemverständnis

In unserer Analyse zeigte sich, dass transdisziplinäre Forschung zu einer Erweiterung, Überarbeitung und Schärfung der wissenschaftlichen Problembeschreibung führen kann. Mit Erweiterung ist gemeint, dass in der Interaktion mit Praxispartner*innen und der Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen deutlich wird, dass zusätzliche Aspekte berücksichtigt werden müssen, um dem untersuchten Problem gerecht zu werden. Forscher*innen merkten beispielsweise im Austausch mit Praxispartner*innen, dass sie für ihr Projekt zum Thema klimafreundliche Alltagspraktiken in der Stadt unbedingt den Bereich Abfallwirtschaft einbeziehen mussten, was ihnen vor Projektbeginn nicht klar gewesen war.

Die Zusammenarbeit mit Expert*innen aus der Praxis kann aber auch dazu führen, dass die anfängliche Problembeschreibung komplett überarbeitet und neu gefasst werden muss. In einem Interview wurde ein Beispiel dafür geschildert: In einem Projekt, in dem Schwierigkeiten während der Eingewöhnungszeit von Kindern in Kindertagesstätten (KiTa) untersucht werden sollte, stellte sich heraus, dass die Eltern gar nicht die Eingewöhnung der Kinder als Problem sahen, sondern die Kommunikation mit den Erzieher*innen während der Zeit, die ihre Kinder in der KiTa verbrachten. Die wissenschaftliche Problemstellung des Forschungsprojekts musste folglich neu formuliert werden.

Als dritte Möglichkeit kann die Zusammenarbeit mit Praxispartner*innen dazu führen, dass die wissenschaftliche Problembeschreibung frühzeitig überprüft und konkretisiert wird. Im besten Fall werden dafür bereits bei der Entwicklung eines Forschungsprojekts methodische Verfahren eingeplant, um direkt zu Beginn des Projekts abzugleichen, ob die im Projektantrag formulierte Problembeschreibung aus Perspektive der beteiligten Praxispartner*innen zutrifft.

Veränderte Qualitäten der wissenschaftlichen Erkenntnisse

In unserer Interviewstudie konnten wir außerdem zeigen, dass transdisziplinäre Forschung die Qualität wissenschaftlicher Erkenntnisse verbessert, weil sie auf unterschiedliches Wissen aus Wissenschaft und Praxis zurückgreift. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die aus transdisziplinären Forschungsprojekten entstehen, zeichnen sich durch methodische Innovationen, verbesserte Datenqualität und zeitliche Relevanz aus.

In Bezug auf methodische Innovationen berichteten Interviewpartner*innen aus der Umweltsoziologie beispielsweise, dass sie in der transdisziplinären Zusammenarbeit dafür sensibilisiert wurden, wie sie in ihrer disziplinären Arbeit qualitativ hochwertigeres Datenmaterial generieren. Ein anderes Beispiel für ein innovatives Vorgehen beschrieb eine Interviewpartnerin aus der Gesundheitsforschung: Für eine Umfrage entwickelte sie den Fragebogen gemeinsam mit Praxispartner*innen, und nach der Umfrage konnte sie die Ergebnisse im Austausch mit den Praxispartner*innen validieren, weil diese ihr Wissen über die lokalen Gegebenheiten einbrachten.

Eine verbesserte Datenqualität entsteht, indem die transdisziplinäre Zusammenarbeit einen Zugang zu nur schwer erreichbaren empirischen Daten ermöglicht, beispielsweise zu Interviews mit Mitarbeiter*innen eines Unternehmens auf unterschiedlichen Hierarchiestufen. Die Interviewpartner*innen betonten, dass die Qualität ihrer Daten und Erkenntnisse durch die Kooperation mit Praxispartner*innen erheblich gesteigert werde. Dies gelte insbesondere für tiefere Einblicke in Praxisfelder, die durch die Zusammenarbeit mit Betroffenen generiert werden.

Transdisziplinäre Forschung führt auch zu neuartigen Ergebnissen, da sie sich auf reale gesellschaftliche Probleme konzentriert und in direktem Austausch mit Praxisakteuren steht. Deswegen kann sie oft aktuellere Erkenntnisse und Problemlösungen liefern als disziplinäre Forschung. Beispielsweise erzählte ein Interviewpartner aus der Chemie, dass der direkte Kontakt mit der Industrie in transdisziplinären Projekten zu Einsichten über laufende Prozesse in der Praxis führe, die er in einem rein disziplinären Kontext erst viel später mitbekommen würde.

Gesteigerte Reflexivität der Forschenden

Transdisziplinäre Forschung fördert eine gesteigerte Reflexivität der Forschenden. Die Interviewten beschrieben, wie die regelmäßige Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven eine kritische Reflexion auf persönlicher und auf disziplinärer Ebene auslöst. Als Beispiele wurden Einsichten über die Grenzen der eigenen Fachrichtung genannt, weil Leerstellen und theoretische Einschränkungen offengelegt werden.

Zudem sensibilisiert transdisziplinäre Forschung die Forschenden für die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft und hinterfragt normative Annahmen. Interviewpartner*innen aus der nachhaltigen Chemie berichteten beispielsweise, dass ihnen durch ihre Beteiligungen an transdisziplinären Projekten auffiel, dass die Arbeitsweise in ihrer Disziplin oft dazu neige, ausschließlich spezifische disziplinäre Forschungsfragen zu beantworten, dabei jedoch den gesamtgesellschaftlichen Kontext vernachlässige. Der Fokus liege auf Grundlagenforschung und eine Beschäftigung mit Nachhaltigkeit ergebe sich erst aus der Bewertung von finalen Produkten. Die Interviewten kritisierten, dass Nachhaltigkeit stattdessen bereits zu Beginn der Forschung berücksichtigt werden müsste, weil dann bestimmte umweltschädliche Stoffe gar nicht erst produziert werden würden.

Herausforderungen für potenzielle Wirkungen in der Wissenschaft

Neben den genannten positiven Aspekten zeigten die Interviews, dass Forschende auch vor einigen Herausforderungen stehen, wenn sie transdisziplinär arbeiten. Die Verarbeitung und Verbreitung von Erkenntnissen aus transdisziplinärer Forschung in wissenschaftlichen Communities gestalten sich als problematisch. Aus transdisziplinären Projekten gehen signifikant weniger wissenschaftliche Publikationen hervor als aus disziplinärer Forschung. Zeitliche und finanzielle Ressourcen sind entscheidend, um die wissenschaftlichen Daten zu analysieren und die neuen Erkenntnisse zu veröffentlichen. Diese fehlen aber oft, da die verfügbaren Mittel in der Regel mit Ende der Projektlaufzeit aufgebraucht sind.

Es ist außerdem notwendig, die Rolle und Unabhängigkeit der Wissenschaft in transdisziplinären Kooperationen kritisch zu reflektieren. Einige Interviewpartner*innen berichteten von Praxispartner*innen aus der Politik, die die Zusammenarbeit mit Forschenden nutzten, um ihre eigenen Interessen zu stärken. Die Interviewten äußerten die Sorge, dass in manchen Fällen in transdisziplinären Forschungsprojekten wissenschaftliche Interessen zu sehr hinter gesellschaftlichen bzw. politischen Interessen zurückstehen könnten.

Fazit

Zusammenfassend können wir mit unserer Studie zeigen, dass transdisziplinäre Forschung positive Auswirkungen auf das wissenschaftliche Problemverständnis, die wissenschaftliche Qualität der Erkenntnisse und die Reflexivität der Forschenden hat. Somit liefert unsere Studie Erkenntnisse darüber, dass dieser Forschungsmodus nicht nur für die Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme, sondern auch für die Wissenschaft einen spezifischen Mehrwert bietet. Zusätzlich zeigen wir Hürden auf, die aktuell das wissenschaftliche Wirkungspotenzial transdisziplinärer Forschung beschränken.

Eine ausführliche Beschreibung der Ergebnisse ist in unserem im November 2023 publizierten Artikel zu finden: Marg, Oskar, Theiler, Lena (2023). Effects of transdisciplinary research on scientific knowledge and reflexivity. Research Evaluation, rvad033, https://doi.org/10.1093/reseval/rvad033 .


Autor*innen

Lena Theiler

Lena Theiler arbeitet am ISOE als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsfeld Transdisziplinarität. Sie studierte Soziologie und Deutsche Philologie an der Freien Universität Berlin und der Universität Basel. Ihre Masterarbeit schrieb sie am KlimaCampus der Universität Hamburg über Einflüsse von Umweltveränderungen auf individuelle Migrationsentscheidungen.

Hanna Hilbert

Hanna Hilbert ist studentische Mitarbeiterin am ISOE im Forschungsfeld Transdisziplinarität.

Oskar Marg

Oskar Marg ist seit 2016 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsfeld Transdisziplinarität am ISOE tätig. Er hat Soziologie, Geschichte und Arbeitswissenschaften an der Universität Bremen und der Åbo Akademi (Finnland) studiert und zur Resilienz von Haushalten gegenüber extremen Schadenserfahrungen am Beispiel eines Hochwasserereignisses in einer sächsischen Kleinstadt promoviert.

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