Transdisziplinarität

Wie man die gemeinsame Forschung im Reallabor erfolgreich gestalten kann – Einsichten aus der Begleitforschung in der Diskussion

Illustration: Oskar Marg (ISOE)

Das transdisziplinäre Format „Reallabor“ erfreut sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit. Wissenschaft und Gesellschaft forschen hier eng und in experimenteller Weise zusammen, um so gemeinsam zu lernen und gesellschaftlichen Wandel sowohl zu fördern als auch besser zu verstehen. Reallabore sollen dabei auch über das Projektende hinaus Wirksamkeit entfalten und die Übertragung der erarbeiteten eigenen Ergebnisse auf andere Kontexte ermöglichen. Doch was sind die zentralen Faktoren, die dazu beitragen, dass Wissenschaft und Praxis den gemeinsamen Prozess bei diesem herausfordernden Forschungsansatz erfolgreich gestalten können?

Der Frage nach den Erfolgsfaktoren von Reallaboren sind wir – neben anderen Fragen – in unserem Begleitforschungsprojekt „ForReal“ (Forschung in Reallaboren begleiten, systematisieren und transferieren) nachgegangen. In diesem Projekt unterstützten und erforschten wir – Leuphana Universität Lüneburg, ISOE und Wuppertal Institut – 14 Reallabor-Projekte. Gefördert wurden diese Projekte von 2015 bis 2018 vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg, wo die Reallabore auch verortet waren.

Zu den Erfolgsfaktoren der Arbeit im Reallabor befragten wir Beteiligte aus allen 14 Reallaboren. Im Ergebnis zeigten sich elf zentrale Erfolgsfaktoren, die wir im Folgenden darstellen möchten. Es handelt sich dabei um keine abzuarbeitende Liste, mit der sich der Erfolg garantiert einstellt! Vielmehr betrachten wir die Faktoren als Empfehlungen, die in ihrer Bedeutung für das eigene Reallabor geprüft und angemessen berücksichtigt werden sollten, um dessen Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Denn jedes Reallabor ist anders.

Die elf Erfolgsfaktoren für gelingende Reallabore

Erfolgsfaktor 1: Die richtige Balance finden zwischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Zielen

Reallabore wollen gesellschaftlichen Wandel fördern und ihn zugleich besser verstehen. Gesellschaftliche Wirkungen sollten aufgrund der engen Kooperation mit der Praxis tendenziell stärker gewichtet werden, ohne wissenschaftliche Erkenntnisse jedoch zu sehr zu vernachlässigen.


Erfolgsfaktor 2: Bedürfnisse, Interessen und Grenzen der Praxis berücksichtigen

Die von Reallaboren adressierten Probleme und entstehenden Lösungen sollten gesellschaftlich relevant sein, um die Unterstützung von gesellschaftlichen Akteuren zu gewinnen und zu erhalten. Wissenschaft sollte zudem Verständnis für Restriktionen und Grenzen der Praxisseite aufbringen.


Erfolgsfaktor 3: Den experimentellen Ansatz aktiv nutzen

Experimente bieten die Chance, Lösungsansätze gemeinsam zu testen und zugleich zu lernen, was zu Veränderungen beiträgt. Wichtig ist es dabei, ein gemeinsames Verständnis von Experimenten, ihren Zielen und möglichen Wirkungen zu entwickeln, denn es sind ganz unterschiedliche Designs der Experimente möglich.


Erfolgsfaktor 4: Aktiv kommunizieren

Aufgrund der Heterogenität der beteiligten Akteure und der Dynamik der Projekte ist aktive Kommunikation während des gesamten Reallabor-Prozesses zentral. Kommunikationsformate sollten gezielt ausgewählt werden, passend zum jeweiligen Zweck, und für entsprechende Kommunikationskompetenzen im Team gesorgt werden. Idealerweise werden Konfliktbewältigungsstrategien eingeplant.


Erfolgsfaktor 5: Eine Kultur der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis entwickeln

Die im Reallabor meist enge Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis sollte früh begonnen werden, um erfolgreich zu sein. Hilfreich ist es, die Fähigkeiten aller Beteiligten zur transdisziplinären Zusammenarbeit zu fördern und ausreichend Ressourcen zur engen Zusammenarbeit einzuplanen und zu sichern.


Erfolgsfaktor 6: Einen konkreten räumlichen Bezug herstellen

Die Verbindung eines Reallabors und seiner Forschung mit einem konkreten Ort – einem Stadtteil, einer Straße oder einem Gebäude –, schafft Begegnungsmöglichkeiten für die beteiligten Akteure und erlaubt es, Experimente durchzuführen. Das fördert die Sichtbarkeit und schafft Vertrauen. Hilfreich ist es, hierfür Fördermittel zu akquirieren oder an bestehende lokale Strukturen anzudocken. Forschende sollten regelmäßige Präsenz vor Ort zeigen.


Erfolgsfaktor 7: Dauerhafte Wirkung und Übertragbarkeit anstreben

Eine Verstetigung erarbeiteter Resultate und ihre Übertragbarkeit auf andere Kontexte sind essenziell für den Erfolg von Reallaboren. Das Potenzial der angestrebten Resultate hierfür sollte früh bedacht und Interesse für die Verstetigung von Ergebnissen berücksichtigt werden. Es gilt, aufmerksam zu sein für Möglichkeiten zur Übertragung und Ergebnisse breit und für andere Kontexte vergleichbar zu kommunizieren.


Erfolgsfaktor 8: Ausreichend Zeit und Geld sicherstellen

Reallabore benötigen Zeit und Geld. Es sollte versucht werden, unter anderem Mittel für eine Vorphase zu beantragen, eine finanzielle Förderung zur Unterstützung von Praxisakteuren zu gewinnen sowie ausreichend Zeit und finanzielle Ressourcen zum Experimentieren zu sichern.


Erfolgsfaktor 9: Auf die Notwendigkeit von Anpassungen vorbereitet sein

Der Projektverlauf von Reallaboren ist meist dynamisch. Anpassungen von Prozessen und Zielen sollten daher ermöglicht und bereits in der Planungsphase bedacht werden. Prozesse sollten in wiederkehrenden Schleifen gestaltet werden. Zugleich muss die Anpassungsfähigkeit mit ausreichend Planungssicherheit ausbalanciert werden. Zu berücksichtigen: In der gegenwärtigen Förderpraxis sind die Anpassungsmöglichkeiten oft begrenzt.


Erfolgsfaktor 10: Lernen und Selbstreflektion ermöglichen

Reallabore sollten Lernmöglichkeiten für alle Beteiligten anbieten und nützen beim gemeinsamen, praktischen Experimentieren, wenn die Machbarkeit von Lösungen getestet und diese gegebenenfalls angepasst werden. Wissenschaftler*innen können Praxisperspektiven kennenlernen und sich dabei selbst reflektieren. Auch Lehre an Hochschulen kann profitieren, wenn Reallabore genutzt werden, um Kompetenzen gemeinsam mit Studierenden zu erweitern.


Erfolgsfaktor 11: Mit Abhängigkeiten von äußeren Faktoren umgehen

Einige Erfolgsaspekte lassen sich kaum beeinflussen. So kann ein Reallabor, welches Themen in einer bestimmten Stadt bearbeitet, sehr abhängig sein von der kommunalen Politik und Verwaltung dieser Stadt mit ihren jeweils eigenen Interessen und Vorgaben. Diese Rahmenbedingungen sollten bei der Projektplanung berücksichtigt und angemessen kommuniziert werden, etwa hinsichtlich Unsicherheiten, Möglichkeiten zum Scheitern und Anpassungsmöglichkeiten gegenüber Veränderungen. Politische Akteure sollten die Rahmenbedingen so gestalten, dass sie den Erfolg von Reallaboren ermöglichen.

Austausch über die Erfolgsfaktoren mit der Reallaborpraxis

Die Erfolgsfaktoren diskutierten wir – Oskar Marg, Niko Schäpke, Matthias Bergmann, Franziska Stelzer und Daniel Lang vom Team ForReal – im Rahmen eines Online-Workshops Ende Juni 2021 gemeinsam mit insgesamt 25 Wissenschaftler*innen und Praxisakteur*innen, die ein ganz unterschiedliches Maß an Erfahrung von Arbeit in Reallaboren mitbrachten. Die Reallabore, von denen die Teilnehmenden berichteten, sind in unterschiedlichen Regionen Deutschlands verankert und laufen überwiegend aktuell noch.[1]

Wir strukturierten den Austausch in Kleingruppen nach den vier Themen: Beginn eines Reallabors, Durchführung, Abschluss und experimenteller Ansatz. Jedem dieser Themen hatten wir mehrere Erfolgsfaktoren zugeordnet. Folgende Erkenntnisse zeigte die Arbeit in Kleingruppen:

  • Ein Reallabor beginnen: Es ist wichtig, zu Beginn Strukturen für den kommenden Arbeitsprozess festzulegen, die die Kooperation zwischen den Reallabor-Beteiligten auch im weiteren Projektverlauf unterstützen, wie etwa gemeinsame Publikationen, Projekttreffen oder die Bestimmung von Personen, welche für die Koordination der Kooperation zuständig sind. Eine frühe Praxiseinbindung ist wichtig. Dies erhöht die Chancen, dass die Ergebnisse am Projektende von den beteiligten Praxisakteuren übernommen werden. Bei Fördermitteln besteht Bedarf an einer Diversifizierung der Quellen, so dass Reallabore nicht nur „von oben“ – etwa aus Ministerien geplant – finanziert werden, sondern stärker auch „bottom-up“ aus gesellschaftlichen Initiativen entstehen können.
  • Ein Reallabor durchführen: Die Bedeutung der aktiven Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Akteuren wurde bestätigt, sie ist allerdings sehr zeitintensiv. Ebenso wurde zugestimmt, dass es wichtig ist, in den Reallaboren vor Ort Präsenz zu zeigen. Reallabore müssen sich immer wieder an verschiedene Rahmenbedingungen anpassen. Diesbezüglich wurde darüber diskutiert, wo die Grenzen für diese Anpassungsfähigkeit liegen, beispielsweise, wenn Genehmigungsprozesse für Baumaßnahmen, die Teil des Reallabors sind, weitaus länger dauern, als ursprünglich geplant.
  • In Experimenten arbeiten: Es gibt mehrere Kriterien für den „Erfolg“ eines Experiments in Reallaboren, etwa gesellschaftliche Effekte, Lernerfahrungen oder Ergebnisoffenheit. Wichtig, um erfolgreich ins Experimentieren zu kommen, sind ausreichend Zeit, ein gemeinsamer konkreter Bezugsgegenstand, die Vergemeinschaftung des Experiments (etwa durch regelmäßige Klärungen im transdisziplinären Team) und ein klarer zeitlicher Rahmen verbunden mit kurzfristigeren „Etappenzielen“, um die Motivation gerade auch der Praxis aufrecht zu erhalten. Dabei sollte das Reallaborteam diskutieren, was Mindestanforderungen an ein Experiment sind und wodurch es sich von anderen Forschungsaktivitäten unterscheidet.
  • Ein Reallabor abschließen und überführen: Die Verstetigung erarbeiteter Ergebnisse muss schon zu Beginn des Reallabors mitgedacht werden, etwa über Gründung eines Partnernetzwerks oder Gründung eines langfristigen Geschäftsmodells. Soziale Innovationen sollten, wenn möglich, mit technischen Innovationen verknüpft werden, also „in Objekten umgesetzt“ werden – das heißt, es ist hilfreich, wenn Ergebnisse erarbeitet werden, die auch greifbar sind. Mehrere aufeinander folgende Reallabor-Projekte können hilfreich für die Verstetigung sein, etwa indem zu Beginn Infrastrukturen – wie ein Stadtteilladen – geschaffen werden, die dann in den Nachfolgeprojekten genutzt werden können.

Zum Schluss bekamen die Teilnehmenden noch die Gelegenheit, über die Relevanz der elf Erfolgsfaktoren abzustimmen (siehe Abb.). Das Ergebnis zeigt, dass die Workshop-Teilnehmenden die Faktoren aktiv kommunizieren, Zeit und Geld, Lernen und Reflexion sowie die Kultur der Zusammenarbeit als besonders wichtig erachten.

Das „Spinnennetz“ zeigt, wie wichtig die Workshop-Teilnehmenden die einzelnen Erfolgsfaktoren sehen (5 = größte Relevanz); Grafik: Franziska Stelzer (Wuppertal Institut)

Fazit

Die Diskussionen im Workshop bestätigten die Relevanz der elf von uns herausgearbeiteten Erfolgsfaktoren weitgehend, keiner von ihnen wurde zudem als irrelevant wahrgenommen. Den Beteiligten war es ein Anliegen, aus ihren jeweiligen Reallaboren Erfahrungen zu schildern. Die berichteten Erfahrungen illustrierten die Erfolgsfaktoren in exemplarischer Weise. Zudem zeigte der Workshop, dass die Erfolgsfaktoren eine gute Orientierungshilfe zur Gestaltung von Reallaboren anbieten. Ihre konkrete, auch methodische Ausgestaltung bedingt intensive Diskussionen und bedarf Antworten, die für jedes Reallabor spezifisch ausfallen.

Die Teilnehmenden regten zudem den weitergehenden Austausch zwischen reallaborbezogener Forschungsförderung, Wissenschaft und Praxis an, um das gemeinsame Wissen um eine erfolgversprechende Gestaltung von Reallaboren zu vertiefen.

Dem „Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit“[2] – Host auch unseres Workshops – wird dabei eine wichtige unterstützende Funktion für das gemeinsame Lernen über Reallabore zugeschrieben.


Die gebündelten Ergebnisse unserer Begleitforschung in Baden-Württemberg lassen sich in unserem Artikel von 2021 nachlesen, den wir in Co-Autorenschaft mit zahlreichen Vertreter*innen aus den dortigen Reallaboren publiziert haben: Bergmann, Matthias/Niko Schäpke/Oskar Marg/Franziska Stelzer/Daniel J. Lang/Michael Bossert/Marius Gantert/Elke Häußler/Editha Marquardt/Felix M. Piontek/Thomas Potthast/Regina Rhodius/Matthias Rudolph/Michael Ruddat/Andreas Seebacher/Nico Sußmann (2021): Transdisciplinary sustainability research in real-world labs: success factors and methods for change. Sustainability Science, https://link.springer.com/article/10.1007/s11625-020-00886-8


Illustrationen: Oskar Marg (ISOE)


[1] Wir danken den Beteiligten herzlich für die einsichtsreiche Diskussion!

[2] https://www.reallabor-netzwerk.de/


Autor*innen

Oskar Marg

Oskar Marg ist seit 2016 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsfeld Transdisziplinarität am ISOE tätig. Er hat Soziologie, Geschichte und Arbeitswissenschaften an der Universität Bremen und der Åbo Akademi (Finnland) studiert und zur Resilienz von Haushalten gegenüber extremen Schadenserfahrungen am Beispiel eines Hochwasserereignisses in einer sächsischen Kleinstadt promoviert.

Niko Schäpke

Niko Schäpke arbeitet seit September 2020 als akademischer Rat im Bereich Environmental Governance der Universität Freiburg. Zuvor hatte er Positionen als Fellow bei der Schwedischen Umweltstiftung MISTRA und als Post-Doc an der Chalmers University of Technology, Göteburg, inne. 2018 schloss Niko seine Doktorarbeit an der Leuphana Universität Lüneburg zu Transition Management als transdisziplinärem Steuerungsansatz von Transformationen ab. Von 2015–2018 koordinierte er das Begleitforschungsteam ForReal aus Leuphana Universität, ISOE und Wuppertal Institut. Als Diplom-Umweltwissenschaftler und Diplom-Ökonom hat er dabei einen interdisziplinären Hintergrund. Niko Schäpke verortet sich im Bereich der problem- und handlungsorientierten Nachhaltigkeitsforschung, mit einem besonderen Interesse an der gesellschaftlichen Steuerung von Transformationen. Im Fokus seiner Arbeit stehen Ansätze, Methoden und Prinzipien einer transformativen Forschung, beispielhaft zu beobachten in den diversen Formen von „Laboren in der realen Welt“. Er nimmt dabei wissenschaftstheoretische, evaluativ-empirische ebenso wie prozessbegleitende und gestaltende Perspektiven ein.

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