Transdisziplinarität

Umkämpfte Wissenschaftlichkeit oder: Warum das Etikett „Solutionismus“ nicht für transdisziplinäre Forschung passt

Infinite labyrinth (© tostphoto - stock.adobe.com)

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Der im Jahr 2014 von Peter Strohschneider, damals Präsident der DFG, an die transdisziplinäre, transformative Nachhaltigkeitsforschung gerichtete Vorwurf des „Solutionismus“ hat viel Wirbel ausgelöst und zahlreiche, teils heftige, oft aber auch etwas hilflose Gegenreaktionen der so Kritisierten provoziert. Denn tatsächlich hatten (und haben) weite Teile der transdisziplinären Forschung sich dem Paradigma des „problem-solving“ verschrieben, sodass es schwierig erschien, sie gegen das Etikett „solutionistisch“ zu verteidigen. Ein neuer Blick auf die Debatte lässt sich jedoch gewinnen, wenn die in der deutschsprachigen Debatte bisher kaum beachtete international etablierte Begriffsbedeutung von Solutionismus als Fixierung auf schnelle technische Problemlösungen in den Vordergrund gerückt wird.


Der Begriff „Solutionismus“ bezeichnet, so der Internet- und Technikforscher Evgeny Morozov (2013: 6), „an unhealthy preoccupation with sexy, monumental, and narrow-minded solutions (…) to problems that are extremely complex, fluid, and contentious“. Aber nicht erst die von den „solutionists“ vorgeschlagenen, in der Regel technischen Lösungen seien höchst fragwürdig, sondern bereits ihre einseitigen, oberflächlichen Definitionen der komplexen Probleme. Betrachtet würden diese allein unter dem Gesichtspunkt, inwieweit es dafür (vermeintlich) einfache und schnelle Lösungen gebe. Ein anderer Kritiker hat dies zu der These zugespitzt, im Horizont des Solutionismus werde gar nicht nach geeigneten Lösungen für jeweils spezifische Probleme gesucht; vielmehr seien die schon vorhandenen scheinbaren Lösungen „auf der Suche“ nach zu lösenden Problemen: „Beware of the solution in search of a problem.“ (Dobbins 2009: 182).

Morozov hat dem Begriff Solutionismus durch sein Buch „To save everything, click here. The folly of technological solutionism“, das vor allem gegen die High-Tech-Visionen der großen Internet-Konzerne (Google, Apple etc.) gerichtet war, recht große Aufmerksamkeit verschafft. Nicht wenige Autor*innen haben seither an Morozov angeknüpft, so etwa die Soziologen Oliver Nachtwey und Timo Seidl, die im Solutionismus den „neuen Geist“ des digitalen Kapitalismus erkennen wollen, das heißt eine sinnstiftende kulturelle Idee, die sowohl die Dynamik des gegenwärtigen Kapitalismus als auch individuelles oder kollektives Engagement für diese Dynamik motivieren und legitimieren soll. Seine Rechtfertigung beziehe der digitale Kapitalismus, so Nachtwey und Seidl (2017: 21), aus dem Versprechen, auf technologischem Weg die Lösung von zentralen Menschheitsproblemen zu bewerkstelligen. Solutionismus als „neuer Geist“ des Kapitalismus beinhalte aber „nicht nur die Vorstellung, dass es für alle sozialen Probleme eine technologische Lösung (…) gibt. Solutionismus impliziert darüber hinaus die Idee, dass alle gesellschaftlichen Probleme als technologische Probleme definierbar sind (…).“ (Nachtwey und Seidl 2017: 21f.). Statt mit Politik und Demokratie verbinde sich der technologische Solutionismus mit einem entfesselten kapitalistischen Unternehmertum und seinen ‚disruptiven‘ Innovationen. Denn unternehmerisches Handeln legitimiere sich im digitalen Kapitalismus auch durch den Anspruch, die Probleme der Welt zu lösen: „Das Motiv, Geld zu verdienen, und das Motiv, die Welt mit technologisch-unternehmerischen Mitteln zu einem besseren Ort zu machen, sind im Solutionismus eng verschränkt.“ (Nachtwey und Seidl 2017: 23).

Transdisziplinäre Forschung und das Etikett des Solutionismus

Man sollte meinen, weder schnelle, technische Lösungen noch der unternehmerische „Geist“ des digitalen Kapitalismus hätten sonderlich viel zu tun mit der mühseligen Kleinarbeit transdisziplinärer (Nachhaltigkeits-)Forschung, mit ihrer Suche nach neuen Perspektiven zur Bewältigung der bedrohlichen sozialen und ökologischen Probleme und Krisen der Gegenwart. Trotzdem hat Peter Strohschneider 2014 das Etikett „Solutionismus“ zur Charakterisierung transdisziplinärer, transformativer Forschung verwendet und einen engen Zusammenhang zwischen Transdisziplinarität und Solutionismus behauptet (Strohschneider 2014: 180).[1] Wie kann das sein und wie ist es möglich, dass er sich dabei auf denselben Referenzautor bezieht wie Nachtwey und Seidl, nämlich auf Morozov? In einer Fußnote räumt Strohschneider (2014: 180) zwar beiläufig ein, er verwende den Begriff „in etwas anderer Akzentuierung“ als Morozov. Wie und warum er das eingeführte Begriffsverständnis modifiziert hat, bleibt jedoch gänzlich unklar und wird nicht weiter begründet – sodass sich der Verdacht aufdrängt, der Grund bestehe vor allem darin, transdisziplinäre Forschung mit einer negativ konnotierten Etikettierung belegen zu können. Für Strohschneider ist der ‚Tatbestand‘ des Solutionismus schon dadurch erfüllt, dass transdisziplinäre Forschung beansprucht, zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beizutragen, dass sie mithin im „Schema von Problem und Lösung“ arbeite (Strohschneider 2014: 179). Dies habe „reduktionistische Auswirkungen“ für das Verständnis von Wissenschaft, denn es stelle Anforderungen praktischer Nützlichkeit über die angeblich interesselose Suche nach der Wahrheit. Damit verkehrt Strohschneider den kritischen Gehalt des Begriffs Solutionismus nahezu ins Gegenteil: Denn nach der Begriffsverwendung von Morozov, Dobbins und anderen ist Forschung nicht schon dann solutionistisch, wenn sie im „Schema von Problem und Lösung“ agiert und (gesellschaftliche) Problemlagen auf neue Gestaltungs- und Lösungsmöglichkeiten hin untersucht. Solutionistisch sind vielmehr (nur) diejenigen wissenschaftlichen Zugänge, die sich lediglich in oberflächlicher Weise für die Probleme interessieren und stattdessen vorschnell schematische, technikbasierte und in der Regel gut vermarktbare Lösungen präsentieren. Morozovs und Dobbins‘ Kritik an einer „lösungsgetriebenen“ (solution-driven) Forschung, die vorrangig auf die Perfektionierung der vermeintlichen Lösung und die Ausweitung ihres Anwendungsbereichs ausgerichtet ist, wird bei Strohschneider umgedeutet in eine Kritik an „problemgetriebener“ (problem-driven) Forschung, die sich zunächst mit der Komplexität der Probleme auseinandersetzt und erst dann nach gesellschaftlichen Lösungen sucht (vgl. Dobbins 2009: 182).

Mit seiner ‚Um-Akzentuierung‘ des Solutionismus-Begriffs möchte Strohschneider „drei Fliegen mit einer Klappe“ schlagen: Erstens wird transdisziplinäre, transformative Forschung durch die Zuschreibung des abwertenden Labels „Solutionismus“ diskreditiert und als reduktionistische Nützlichkeits-Wissenschaft abgestempelt; zweitens kann Strohschneider hiervon die akademische, disziplinäre Forschung als vermeintlich ‚reine‘ und ‚echte‘, allein der objektiven Wahrheit verpflichtete Wissenschaft abgrenzen; drittens hat die Etikettierung transdisziplinärer Nachhaltigkeitsforschung als „solutionistisch“ auch den Effekt, den massiven Solutionismus innerhalb der etablierten, disziplinären Wissenschaft zu verdecken. Tatsächlich finden sich die wahren Solutionist*innen nicht allein in kalifornischen Technologiekonzernen, sondern auch in der akademischen Forschung, wenn sie versucht, alle möglichen, nur oberflächlich analysierten sozial-ökologischen Probleme mit den immer gleichen, disziplinären Standard-Mitteln zu ‚lösen‘: technische Effizienzsteigerungen oder Filteranlagen für Schadstoffe in den Ingenieurwissenschaften, monetäre Anreize und künstliche Wettbewerbe in der Ökonomie usw.

Die Idee des „Problem-Lösens“ kritisch reflektieren

Aber dennoch: Obwohl der von Strohschneider gegenüber der transdisziplinären (Nachhaltigkeits-)Forschung erhobene Solutionismus-Vorwurf offensichtlich verfehlt und primär strategisch motiviert ist, berührt er einen wunden Punkt, nämlich die Orientierung weiter Teile der transdisziplinären Forschung an der Rhetorik und Programmatik des „problem-solving“. Gesellschaftliche und/oder ökologische Probleme lassen sich, so der dahinterliegende Gedanke, nicht durch (mono-)disziplinäre Zugänge lösen, sondern erfordern das Zusammenspiel verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen sowie die Einbeziehung von nicht-wissenschaftlichen Akteur*innen aus der gesellschaftlichen Praxis. Das ist selbstverständlich nicht falsch, doch statt lediglich die ‚besseren‘ Lösungen zu versprechen, sollte transdisziplinäre Forschung grundsätzlicher auch die Idee des (endgültigen, abschließenden) ‚Lösens‘ von Problemen kritisch reflektieren und in Frage stellen. Sie sollte ihre wesentliche Aufgabe und Leistung eher darin sehen, komplexe Problemkonstellationen detailliert und differenziert zu analysieren, um mögliche Antworten darauf vorschlagen zu können, die dann Gegenstand demokratischer gesellschaftlicher Beratung und Entscheidung werden können.


Literatur

Dobbins, Michael 2009. Urban Design and People. Hoboken: John Wiley & Sons.

Morozov, Evgeny 2013. To save everything, click here. The folly of technological solutionism. New York: Public Affairs.

Nachtwey, Oliver und Timo Seidl 2017. Die Ethik der Solution und der Geist des digitalen Kapitalismus. IfS-Working Papers Nr. 11, Frankfurt am Main: Institut für Sozialforschung. Strohschneider, Peter 2014. Zur Politik der Transformativen Wissenschaft. In: Die Verfassung des Politischen. Festschrift für Hans Vorländer. Herausgegeben von A. Brodocz, D. Herrmann, R. Schmidt, D. Schulz, J. Schulze Wessel. Wiesbaden: Springer VS. 175–192.


[1] Etwas ausführlicher habe ich mich mit Strohschneiders Solutionismus-Vorwurf in dem Artikel „Transdisziplinarität und Solutionismus. Ein verfehlter Vorwurf, aus dem sich dennoch einiges lernen lässt“ auseinandergesetzt, der in Heft 1/2022 der Zeitschrift GAIA erschienen ist: https://doi.org/10.14512/gaia.31.1.6 , https://www.oekom.de/_files_media/zeitschriften/artikel/GAIA_2022_01_19.pdf


Autor*in

Peter Wehling

Peter Wehling ist Privatdozent am Institut für Soziologie der Goethe-Universität in Frankfurt. Er studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Geschichte an den Universitäten München, Marburg und Frankfurt am Main und erwarb akademische Grade in Philosophie (MA) und Politikwissenschaft (Dr. phil.) an der Goethe-Universität und in Soziologie (Habilitation) an der Universität München. Peter Wehling hatte verschiedene wissenschaftliche Positionen an der Goethe-Universität (1990-1995), am ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt (1995-1998), an der Universität München (2000-2001), an der Universität Augsburg (2001-2013) und erneut an der Goethe-Universität, Institut für Soziologie (seit 2013). Er war Gastprofessor an der Universität Augsburg, der Universität Bielefeld und der Technischen Universität Darmstadt und hatte zwei halbjährige Fellowships am Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ (Universität Konstanz). Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschafts- und Technikforschung, Soziologie der Biopolitik und Biomedizin, Soziologie des Wissens und des Nichtwissens, Soziologie gesellschaftlicher Naturverhältnisse sowie kritische Gesellschaftstheorie.

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