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Mobilitätswende – können Mobilitätsexperimente die Wende voranbringen?

Auf einer Stadtrundfahrt im Schnee stecken geblieben – ein Experiment wäre gewesen, zu Fuß zu gehen (© Deffner 2022)

Auf einer Stadtrundfahrt im Schnee stecken geblieben – ein Experiment wäre gewesen, zu Fuß zu gehen (© Deffner 2022)

In privaten Gesprächen werden unsere Kollegen und wir oft gefragt: „Sag mal, was kann ich denn anders machen, als mit dem Auto zu fahren?“ Als Mobilitätsforscher*innen arbeiten wir genau an dieser Frage. Wir wollen herausfinden, was die strukturellen und individuellen Hürden und Hemmnisse für die Mobilitätswende sind – die momentan eher einem festgefahrenen Bus im Schnee ähnelt als einem von allen Beteiligten engagiert unterstützten Wandel, bei dem alle begeistert mitmachen.

Mobilität einfacher gestalten

Die Nutzung von Verkehrsmitteln wird sehr stark durch Routinen und Gewohnheiten bestimmt. Diese müssen wir nicht nur als individuelles Alltagshandeln verstehen. Auch Infrastrukturen, Gesetze und das Verständnis, was „normal“ ist in der Gesellschaft, bestimmen und festigen dieses Verhalten. So ist die Nutzung des privaten Autos nicht nur eine individuelle Entscheidung. Vielmehr begünstigen eine auf das Auto ausgerichtete Infrastruktur sowie Gesetze und Regelungen den Individualverkehr mit dem Auto. Hinzu kommen Subventionen, die die Nutzung des Autos fördern. Dies hat Auswirkungen auf die gesellschaftliche Teilhabe oder die Bewältigung des Alltags. Hier müssen Veränderungen ansetzen, wenn wir die Mobilitätswende voranbringen wollen. Wie also können solche Gewohnheiten – oder wie sie in der Forschung genannt werden – Praktiken aufgebrochen werden?

Ein wichtiger und unumstrittener Baustein ist die Verbesserung von Infrastrukturen und Angeboten für Verkehrsmittel jenseits des Autos. Viele Forscher*innen und Praktiker*innen sind damit beschäftigt, das Fahren mit der Bahn, mit dem Rad oder den Weg zu Fuß sicher und komfortabler zu gestalten. Andere beschäftigen sich mit der Frage, wie Mobilitätsangebote und Technologien, die die Autonutzung effizienter und weniger umweltschädlich machen, gestaltet sein müssten, damit endlich mehr Menschen diese nutzen.

In unserem Forschungsschwerpunkt ‚Mobilität und urbane Räume‘ haben wir uns in den zurückliegenden Monaten auf etwas anderes konzentriert: In zwei mehrmonatigen Mobilitätsexperimenten haben wir Bürger*innen die Möglichkeit geboten, neue Mobilitätsroutinen auszuprobieren. Dabei haben auch wir sehr viel gelernt. Im Forschungsprojekt Mobilitätslabor 2020, das wir im Auftrag des Umweltbundesamtes (UBA) durchgeführt haben, haben wir 24 Teilnehmer*innen aus dem Landkreis Osnabrück und den Städten Dortmund und Hagen sechs Monate lang unterstützt und dabei begleitet, privates Carsharing, E-Bikes und den ÖPNV für ihre Alltagsmobilität zu testen. Und in dem vom Bundesforschungsministerium (BMBF) geförderten Projekt PendelLabor haben wir 40 Pendler*innen in der Region Frankfurt begleitet, ihren Weg zur Arbeit – anders als bisher mit dem privaten herkömmlichen Auto – mit dem E-Bike, dem ÖPNV oder dem E-Auto zurückzulegen

Was bewirkt das Experimentieren mit neuen Mobilitätsroutinen?

Unsere Erfahrungen zeigen, dass das Experimentieren mit etwas Neuem einfach Spaß und Freude bereitet und die Teilnehmenden sehr motiviert hat. Zum anderen ist Experimentieren unverbindlich, ähnlich wie das Anprobieren eines extravaganten Brillengestells beim Optiker. Zuerst sitzt es ungewohnt und sieht fremd aus. Dann stellt man aber plötzlich fest, dass es doch zu einem passt.

Viele Menschen kennen Mobilsein jenseits der Autonutzung gar nicht und empfinden Alternativen abschreckend oder zu kompliziert. Hier kommen Mobilitätsexperimente und Testphasen ins Spiel: Sie machen Alternativen im Alltagsleben erfahrbar, ohne Verpflichtungen eingehen zu müssen. Die Teilnehmenden gehen spielerisch an die Sache heran, es sind zunächst kaum Ausgaben oder langfristig wirkende Entscheidungen erforderlich. Auf diese Weise können die Alternativen zum Auto die Motivation stärken, umzusteigen.

Ein wichtiger Bestandteil der Experimente war eine persönliche Mobilitätsberatung, in der Teilnehmende erfahren haben, welche Möglichkeiten ihnen zur Gestaltung der Alltagsmobilität jenseits des Autos offenstehen. Dadurch konnten anfängliche Unsicherheiten verringert werden: Wie plane ich eine Anreise mit Rad, Bahn und Bus richtig? Wo muss ich einen Zeitpuffer einbauen? Wo kann ich mein Lastenrad oder E-Bike sicher abstellen? Warum ist die Regenhose fürs Fahrradpendeln unerlässlich? Wie „geht“ es, multimodal mobil zu sein? Durch die Beratung und dann das Ausprobieren werden der Umgang mit neuen Verkehrsmitteln eingeübt und notwendige Kompetenzen aufgebaut.

Was bleibt?

Mit der Brille praxistheoretischer Ansätze[1] betrachtet, eignen sich die Teilnehmenden in den Experimenten neue Praktiken an und betten sie in ihren Alltag, also in das Netzwerk anderer Praktiken, ein. So entstehen Prototypen für neue Routinen, die später „in Serie“ gehen können, wie zum Beispiel der Weg mit dem E-Bike zur S-Bahn, das Abstellen des Fahrrades in eine Parkbox, und auch die Sporttasche wird dort gelagert, damit am Abend die Sportroutine mit der neuen Pendelroutine verknüpft werden kann. Schon hat eine kleine Transformation stattgefunden.

Alle Teilnehmer*innen berichten außerdem, dass sie während des Experiments die Reflexionsmöglichkeit über die eigene Mobilität sehr geschätzt haben. Viele beschreiben, dass sich dieses Nachdenken auch auf andere Lebensbereiche ausgeweitet hat: auf das Thema „Nachhaltigkeit im Haushalt“ und auf ein stärker gesundheitsbewusstes Verhalten. Die Teilnehmenden haben ihre Erfahrungen außerdem mit Freund*innen, der Familie und Kolleg*innen geteilt und hier vielleicht auch zum Umdenken angeregt.

Reichen die Erfolge schon für die Mobilitätswende?

Ganz klar: Nein. In Forschungsprojekten haben wir entsprechende Ressourcen und können einen Rahmen schaffen, der das Neue greifbarer macht für den Alltag. Die Wirkung ist zudem auf das Projektgebiet begrenzt: An unserem Projekt haben 64 Personen teilgenommen. Zudem wissen wir heute nicht, wie lange sie ihre Veränderung fortsetzen. Für die Mobilitätswende brauchen wir jedoch so viel mehr, um Ressourcen zu sparen, den Klimawandel zu begrenzen und Städte lebenswerter zu machen.

Unsere Forschungsergebnisse sind aber ein umfangreicher Schatz an Erfahrungen. 64 Menschen können fundiert darüber sprechen, wie alltagstaugliche nachhaltige Mobilität aussehen kann und welche Infrastrukturen und Angebote dafür wirklich wichtig und sinnvoll sind. Sie können darüber Auskunft geben, wie viel Spaß es macht, Alltagswege mit dem E-Bike zurückzulegen und wie sie ihre Pendelzeit im Zug mit Lesen verbringen und nicht länger das Gefühl haben, Lebenszeit mit Warten im Stau zu verschwenden. Durch die veränderte Mobilität bilden sich neue Nutzenzuschreibungen und Werte aus: zum Beispiel eine neue Naturwahrnehmung, körperliche Fitness, eine Möglichkeit, Abstand vom Arbeitsalltag zu bekommen oder für sich eine gelassenere Mobilität zu gestalten. Unsere Aufgabe als Wissenschaftler*innen ist es, all diese Erfahrungen für Planer*innen und Politiker*innen in Empfehlungen und Maßnahmen zu übersetzen, die jenseits des bloßen Ausbaus bereits bestehender Angebote elementar dazu gehören, wenn wir die Mobilitätswende ernst nehmen. Aus dem Projekt Mobilitätslabor2020 erscheinen dazu im Frühjahr die Veröffentlichungen. Eindrücke und Ergebnisse des Projekts PendelLabor diskutieren wir am 23. Februar 2023 in unserer Veranstaltung „Neue Wege in die Stadt: Wie Pendeln nachhaltiger werden kann“ im Rahmen der Frankfurter Bürgeruniversität.


[1] Stein, Melina/Luca Nitschke/Laura Trost/Ansgar Dirschauer/Jutta Deffner (2022): Impacts of Commuting Practices on Social Sustainability and Sustainable Mobility. Sustainability 14 (8)


Autor*innen

Jutta Deffner

Jutta Deffner ist seit 2005 am ISOE und leitet den Forschungsschwerpunkt Mobilität und Urbane Räume. Sie hat über Stile nichtmotorisierter Mobilität von Stadtbewohnern an der TU Dortmund promoviert. Zuvor war sie in der Forschung und Planungspraxis in Berlin, Stuttgart und Zürich tätig. Jutta Deffner hat an der Universität Kaiserslautern Raum- und Umweltplanung studiert und ist ausgebildete Bauzeichnerin.

Melina Stein

Melina Stein ist wissenschaftliche Mitarbieterin am ISOE im Forschungsschwerpunkt Mobilität und Urbane Räume. Sie studierte Soziologie und Politikwissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit den Schwerpunkten Methoden der empirischen Sozialforschung und Stadtsoziologie. Ihre Schwerpunkte am ISOE sind nachhaltige Mobilität und qualitative Sozialforschung.

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