Impuls von Uwe Schneidewind zur Gründung der Fachgesellschaft für transdisziplinäre und partizipative Forschung am 10.05.2023 an der TU Berlin
Wie beflügeln sich Wissenschaft und gesellschaftliche Transformation? Diese Frage bewegt eine immer weiter zunehmende Zahl an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den Bereichen der transdisziplinären Wissenschaft, der sozial-ökologischen Forschung, der Citizen Science und weiteren Formen der partizipativen Forschung. Sie bilden die Communities, die sich jetzt zur gemeinsamen Fachgesellschaft für transdisziplinäre und partizipative Forschung zusammengefunden hat.
Der folgende Text formuliert vier Thesen mit Blick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Transformation sowie künftige Herausforderungen für die jetzt gegründete Fachgesellschaft.
(1) Eine wirkliche Etablierung von „transdisziplinärer und partizipativer Forschung“ im Wissenschaftssystem steht trotz der eindrucksvollen Entwicklung der letzten 30 Jahre weiter aus.
Einerseits ist es eindrucksvoll, wie es transdisziplinäre Forschungsansätze aus der Nische, und in Deutschland entscheidend geprägt durch freie Nachhaltigkeitsforschungsinstitute wie dem ISOE in Frankfurt, dem IÖW Berlin, dem Wuppertal Institut und dem Öko-Institut, als etablierter Baustein in die Universitäten und großen Forschungseinrichtungen geschafft haben. Der breite Kreis der Gründerinstitutionen der Fachgesellschaft und die Ansiedlung der Geschäftsstelle beim Präsidium der TU Berlin (am 10.05.23 unterstrichen durch die Worte von TU-Präsidentin Geraldine Rauch) machen das deutlich. Konzepte wie das der „Reallabore“, im Kontext der transdisziplinären Forschung vor gut zehn Jahren geprägt, sind heute wichtiger Bestandteil des Forschungs-(politischen) Mainstreams.
Doch ein ehrlicher Blick zeigt: Die transdisziplinäre und partizipative Forschung hat die Fachkulturen bisher nicht wirklich erreicht, wissenschaftliche Karrieren mit einem ausgeprägten transdisziplinären Profil sind weiterhin schwierig. Der Partner/innen-Kreis im Kontext der jetzt gegründeten Gesellschaft hat zur Gründung ein Eckpunktepapier veröffentlicht.[1] Es ähnelt sehr den Forderungen, die von der Community ziemlich genau auch schon vor zehn Jahren ähnlich formuliert wurden.[2] Das macht den unveränderten Handlungsbedarf deutlich.
Genau deswegen ist die Gründung der „Fachgesellschaft für transdisziplinäre und partizipative Forschung“ so wichtig. Sie bündelt Kräfte, methodische und politische Anstrengungen. Sie ist Anlaufstelle für junge Forscherinnen und Forscher und kann damit wichtige Beiträge zur vertieften Verankerung einer transdisziplinären Wissenschaft im Wissenschaftssystem leisten.
(2) Auch die wirklich umfassende wissenschaftliche Begleitung von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen vor Ort gelingt bisher nur in Einzelfällen.
Aber auch der Blick aus der Praxisseite zeigt: Das Potenzial, das eine (transdisziplinäre) wissenschaftliche Begleitung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen in sich trägt, ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft.
Insbesondere in den vielen Reallabor-Forschungsprojekten der letzten Jahre (vgl. zum Überblick Reallabore: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg) wurde in Stadtquartieren deutlich, welchen Mehrwert es bringt, wenn eine sich selbst aktiv einbringende Wissenschaft als Plattform für die (Wissens-)Integration der Beteiligten, als Wissensgeber und als reflexive Instanz zur Beförderung von Lernprozessen aller Beteiligten wirkt. Transdisziplinäre und partizipative Wissenschaft wird damit zu einem Beschleuniger gesellschaftlicher Lern- und Veränderungsprozesse.[3]
Doch damit ist das Potenzial einer (transdisziplinären) Forschungsbegleitung für gesellschaftliche Veränderungsprozesse bei weitem nicht ausgeschöpft: Demokratie im guten Sinne lebt vom Vertrauen in den „zwanglosen Zwanges des besseren Argumentes“, davon, dass wir als Menschen bei aller Unterschiedlichkeit der Interessen und Perspektiven am Ende in einem gewaltfreien, über den Diskurs organisierten Miteinander die gemeinsamen Anliegen organisieren und gestalten können. Durch „Fake News“, „Cancel Culture“ und populistischer Stimmungs-Zuspitzung wird diese produktive Kraft des besseren Arguments in Demokratien immer mehr untergraben. Die Lösung ist dabei in keinem Fall ein simples „Follow the Science“ und damit die Aufgabe von Demokratie durch Expertokratie. Ganz im Gegenteil: Es geht um die Schaffung von Räumen, in der unterschiedliche Perspektiven und Wissensformen einen Raum zum Ausgleich finden. Genau das leisten transdisziplinäre und partizipative Wissensprozesse. Transdisziplinäre Wissenschaft ist daher ein ganz wichtiger Demokratieverstärker in diesen Tagen, den es zu stärken gilt!
Wie lassen sich nun die in den Thesen 1 und 2 formulierten ungehobenen Potenziale entfalten? Auch dazu zwei Thesen:
(3) Wir brauchen „Reallabore“ in ganz anderen Maßstäben.
Die in den letzten Jahren entstandenen Reallabore haben das Potenzial transdisziplinärer Forschung im kleinen Maßstab aufscheinen lassen. Jetzt gilt es das Ganze großskaliger zu denken – auch als ein Beitrag zum Bürokratieabbau und zur institutionellen Weiterentwicklung unserer Demokratie. Denn institutionelle und soziale Innovationen kommen aktuell viel langsamer voran als technologische.
Dazu zwei Gedankenexperimente:
(a) Wie wäre es, wenn wir fünf Städten in Deutschland erlauben würden (basierend auf einem mit qualifizierter Mehrheit getroffen Stadtratsbeschluss) dafür zu votieren, für 5 oder auch 10 Jahre den Denkmalschutz bei der Montage von Fotovoltaik auszusetzen? Vieles spricht dafür, dass auch in diesem Fall keine Verschandelung des Stadtbildes erfolgen würde, weil die meisten Eigentümer von denkmalgeschützten Immobilien selbst ein großes Interesse an einer ansprechenden Anmutung ihres Hauses haben. Dieses Experiment würde einen massiven Bürokratieabbau und ein Transformationsbeschleuniger für den Fotovoltaikausbau bedeuten und sollte intensiv wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden und wäre Grundlage für den weiteren allgemeinen Umgang mit den entsprechenden Denkmalschutzbestimmungen.
(b) Und noch weiter gedacht: Wie wäre es, wenn einzelne Städte in Deutschland zu sogenannten „Charter Cities“ würden, d.h. Städte in einem Land, für die ein anderer institutioneller Gesetzesrahmen gilt. Die Städte hätten die Möglichkeit, aus dem Gesetzesrahmen anderer europäischer Länder jeweils die aus Ihrer Sicht geeignetsten Rahmen zu wählen (das würde auch das zwischenstaatliche Lernen in den rechtsstaatlichen europäischen Regulierungsraum beschleunigen). Wir würden damit einen umfassenden institutionellen Lern- und Experimentierraum schaffen.
Aktuell arbeitet die Bundesregierung an einem Reallaborgesetz, das bald in den parlamentarischen Anhörungsprozess geht. Es zielt auf die leichtere institutionelle Umsetzung technischer Innovationen. Die vorgesehenen Experimentierklauseln könnten aber durchaus im o.g. Sinne künftig viel weiter gedacht werden.
Dies würde die Möglichkeit für eine wirkliche Bürokratiereform öffnen und dabei das Potenzial einer transdisziplinären und partizipativen Forschung nutzen: eine schöne Agenda-Setting-Aufgabe für die neu gegründete Fachgesellschaft.
(4) Auch die Hochschulorganisation sollte den Mut haben, mit Blick auf die Etablierung von Reallaboren ganz neue Wege zu gehen.
Die Dynamik transdisziplinärer Forschung hat in den letzten Jahren auch die Ausdifferenzierung der Wissenschafts- und Hochschullandschaft beflügelt. Hochschulen wie die Leuphana Universität oder die Hochschule für Nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (HNEE) haben den Mut gezeigt, ihre Lehr- und Forschungskonzeptionen konsequent transdisziplinär auszulegen und damit besondere Hochschulprofile zu schaffen.
Auch diese Entwicklung lässt sich durchaus noch weiter denken: Wie wäre es eigentlich, wenn sich das Forschen und Lernen konsequent um die Transformationsherausforderungen einer konkreten Stadt organisiert? Der urbane Transformationsraum wird zum Campus. Studierende würden ihr fachliches Wissen problembasiert um konkrete Veränderungsherausforderungen herum erwerben. Die neuen digitalen Möglichkeiten schaffen dabei alle Möglichkeiten, dafür jederzeit auf den aktuellen Stand internationaler Forschung und Lehrveranstaltungen zurückzugreifen. Gerade Städte stecken heute in massiven Veränderungsprozessen: technologisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich, ökologisch. Es gibt kaum eine fachliche Fragestellung, für die es nicht ein Anwendungspendant vor Ort geben würde. Problemorientiertes und transdisziplinäres Lernen wären die DNA eines solchen neuen Hochschultyps.[4]
Auch dies ist ein weiteres Thema, das in der neuen Fachgesellschaft den richtigen Platz hätte, weiterentwickelt und vorangetrieben zu werden. Daher gilt: Die neue Fachgesellschaft hätte zu kaum einem besseren Zeitpunkt gegründet werden können. Sie wird gebraucht und es liegen spannende Aufgaben und Themen vor ihr.
[1] Transdisziplinäre und partizipative Wissenschaft stärken und eine nachhaltige Zukunft gestalten. Eckpunkte für Wissenschaftspolitik, Forschungsförderung und Wissenschaft. Partner*innenkreis tdAcademy. GAIA 0/0 (2023): 1–3 https://gaia.oekom.de/index.php/gaia/libraryFiles/downloadPublic/39
[2] Vgl. zum damaligen Überblick: Uwe Schneidewind, Mandy Singer-Brodowski (2014): Transformative Wissenschaft. Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem. Metropolis-Verlag, Marburg
[3] Siehe auch Warum wir „produktive“ Städte neu denken müssen. Die moderne Stadtentwicklung braucht neue Konzepte. Warum eine enge wissenschaftliche Begleitung dabei unverzichtbar ist, erklärt Uwe Schneidewind in seiner neuen Kolumne. 23.08.2021
[4] Vgl. dazu auch: Hochschulen nach Corona – der urbane Campus als neues Organisationsprinzip von Lehre und Forschung? Die Corona-Krise offenbart: Hochschulen funktionieren viel ortsunabhängiger als vermutet. Das eröffnet die Chance, die Ortsbindung von Hochschulen und die Verbindung zwischen Stadt und Hochschule neu zu denken. Ein Impuls von Uwe Schneidewind. 19.11.2020)
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