Die „Corona-Krise“ und der gesellschaftliche Umgang damit hat schockartig die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse als konkrete gesellschaftliche Erfahrung ins öffentliche Bewusstsein gebracht – bis tief in individuelle, existenzielle Lebensbereiche. Je größer die Gefahrenlage erscheint und je eingreifender die zu ihrer Eindämmung getroffenen Maßnahmen sind, desto eher wird sie in einen Zusammenhang mit anderen krisenhaften Entwicklungen gesellschaftlicher Naturverhältnisse wie dem anthropogen verursachten Klimawandel oder dem Verlust der biologischen Vielfalt gebracht. Diese miteinander verknüpften Krisen zeichnen sich, bei allen Unterschieden, durch Strukturähnlichkeiten aus:
- Die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur sind tiefgreifend gestört. Gesellschaftliches Handeln und ökologische Effekte greifen so eng ineinander, dass sie kaum noch getrennt betrachtet werden können. Bei der Corona-Krise stehen die Tier-Mensch-Beziehungen, die Gesundheit der Bevölkerung und die globalen Handels-, Verkehrs- und Landnutzungsstrukturen im Mittelpunkt.
- Die Komplexität von Ursachen und Folgen führt zu exponentiellem Systemverhalten: In der Corona-Krise überlagern sich natürliche und gesellschaftliche Prozesse auf unterschiedlichen zeitlichen, räumlichen und sozialen Skalen – etwa vom lokalen Ausbruch von COVID-19 im chinesischen Wuhan bis hin zur globalen Ausbreitung der Pandemie. Anders als in der Klimakrise ist der Zeithorizont in der Corona-Krise jedoch sehr viel kürzer.
- Gesellschaftliches Handeln und Entscheiden findet unter hoher Unsicherheit und Nichtwissen bzw. strittigem Wissen statt. In der Corona-Krise gilt dies insbesondere hinsichtlich der biologischen Wirkweisen von SARS-CoV-2 sowie der Wirksamkeit und unbeabsichtigten Nebenfolgen der zur Pandemieeindämmung getroffenen Maßnahmen.
- Die COVID-19-Pandemie bündelt die Krisenwahrnehmung wie unter einem Brennglas zu Krisenerfahrungen, denen ein katastrophisches Moment innewohnt – je nach lokalen und nationalstaatlichen Bedingungen, sozialer Lage, normativen Orientierungen und den unterschiedlichen Erfahrungen in der individuellen Bewältigung des privaten, sozialen und beruflichen Alltags. Mit ihrer Dramatik und Tiefenwirkung wird die pandemische Krise so zu einer neuen gesellschaftlichen Erfahrungsform mit lokal, regional und global sehr unterschiedlichen Ausprägungen.
Was hier auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene als reale Erfahrung in der Gegenwart erlebt wird, kommt in anderen Krisen erst noch auf uns zu. Krisen werden zu einem dauerhaften Phänomen, in denen Prozesse verdichtet und zugleich enorm beschleunigt werden.
Vor diesem Hiergrund ist es wesentlich, in der Corona-Krise Formen der Krisenbewältigung zu entdecken, die über eine Politik der Gefahrenabwehr und darauf bezogener Maßnahmen hinausgehen, indem sie aus der Perspektive von Krise als Gestaltungsaufgabe gedacht werden – sowohl für kommende Pandemien, womit gerechnet werden muss, als auch darüber hinaus für andere Krisen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, die die gegenwärtige Epoche prägen. Der Faktor Zeit ist hier – wie bei der Bewältigung jeglicher Krisen – als existenzielle Währung zu verstehen.
In der aktuellen Situation scheint eines sicher: Eine Rückkehr und ein nahtloses Anknüpfen an Verhältnisse in Zeiten vor der Pandemie wird es nicht geben können. Auch greift die Vorstellung, die Krise zu isolieren im Sinne eines „Wir müssen nur durchhalten bis alle Menschen geimpft sind“ zu kurz. Allenfalls lassen sich die Auswirkungen der Pandemie eingrenzen, aber die Krisen auslösenden ökonomischen, sozialen und ökologischen Ursachen werden dadurch nicht beseitigt. Die Konzentration auf Gefahrenmanagement und Gefahrenabwehr ist zwar notwendig, die damit verbundenen strukturellen Veränderungen in globalen Produktions- und Konsumweisen, Machtverhältnissen, Geschlechterverhältnissen, in Eingriffen in private Bereiche und soziale Lebenswelten sind tief und lösen viele grundsätzlichere Fragen nach dem gesellschaftlichen Miteinander aus. Die Idee von der Beherrschbarkeit, vom „Ende“ der Pandemie lebt von Beispielen aus der Vergangenheit und mag sozial und politisch hilfreich sein, die Idee von der Beherrschbarkeit der Ursachen- und Folgendynamik der Corona-Krise ist es nicht. Diese wird sich nicht ein für alle Mal „lösen“ lassen. Vielmehr geht es darum, die Krise als eine sozial-ökologische Gestaltungsaufgabe zu betrachten. Diese muss die aktuelle Fixierung auf Gefahr und ihre Abwehr, auf das Virus als den Feind, den es auszurotten gilt, überwinden und die Ursachen-Wirkungs-Komplexe adressieren, die zu der Krise geführt haben, und an die Krisenerfahrung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in dieser Krise, um aus beidem zu lernen.
Das ISOE hat in den letzten Jahren Prinzipien zur Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse erarbeitet. Diese wollen wir exemplarisch anwenden, um die Corona-Krise als Gestaltungsaufgabe mit einer längerfristigen Perspektive zu betrachten. Die Gestaltungsprinzipien helfen, mit einem kritischen Blick auf die Entstehung und den Umgang mit COVID-19 Schlussfolgerungen für einen besseren Umgang mit der Corona-Krise bzw. das Vermeiden von zukünftigen Pandemien ziehen zu können. Darüber hinaus lassen sich so Gestaltungsmöglichkeiten von krisenhaften gesellschaftlichen Naturverhältnissen auch in anderen Bereichen gewinnen, insbesondere für den Umgang mit der Klimakatastrophe und mit dem Biodiversitätsverlust.
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